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Выпуск №4 от 20 января 2023. Пятница
freitag, 20. januar 2023 D ie russische Invasion in der Ukraine dauert nun schon fast ein Jahr. Sie hat bisher unvorstellbare Opfer gefordert: Zehntausende Tote, Millionen Flüchtlinge, zerstörte Städte und Infrastruktur, unsägliches Leid der Menschen, die diesen Winter ohne Strom und Wärme überleben müssen, und eine moralische Katastrophe des russländischen Volkes, das in einer Diktatur gefangen ist. Putins kriminelle Macht verlangt von den Russen, dass sie ihre Menschenwürde aufgeben, aber viele von uns leisten weiterhin Widerstand – im Gefängnis, im Untergrund und im Exil. Von der russischen Gesellschaft wird gefordert, sich dem Krieg anzuschließen und ihn zu unterstützen. Diejenigen jedoch, die sich weigern, werden verfolgt und zerstört. Dies ist in der Geschichte unseres Kontinents bereits geschehen. Jetzt sind wir – Aktivisten, Journalisten, die russische Opposition gegen die blutige Diktatur – noch zu schwach. Aber wir können es uns nicht leisten aufzugeben. Die deutsche Gesellschaft hat eine ähnliche Tragödie erlebt. Trotz einer Niederlage im Krieg und Besatzung gelang es ihr, sich wieder aufzurichten und nicht in einen neuen Revanchismus zu verfallen. Deutschland versucht heute zu Recht, vorsichtig zu sein, um nicht in einen neuen großen Krieg hineingezogen zu werden, der in Europa noch 2021 undenkbar schien. Nichtsdestotrotz haben wir alle keine andere Wahl, als der Ukraine zu helfen, sich zu verteidigen. Es ist unmöglich, untätig zu bleiben, wenn Antischiffsraketen der russischen Armee Hochhäuser in der friedlichen ukrainischen Stadt Dnipro zerstören – so geschehen am 14. Januar 2023. Wenn Europa die Ukraine nicht rettet, ist es dem Untergang geweiht. Aus der Erfahrung Deutschlands wissen wir, dass der einzige Weg, Russland zu erneuern und in die europäische Völkerfamilie zurückzuführen, eine militärische Niederlage Putins ist. Dieser Weg wird wahrscheinlich nicht weniger schwierig sein als der Weg, den Deutschland im 20. Jahrhundert gegangen ist. Natürlich ist ein direkter Vergleich unserer Situation mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust undenkbar, da die Taten der Nazis und die Anzahl ihrer Verbrechen ihresgleichen suchen. Aber Putin als ein Verbrecher hat mehrere Qualitäten, die man nur verstehen kann, wenn man sich an die Ereignisse von 1933 bis 1945 erinnert. Im Gegensatz zu Putin hat Hitler allerdings nie behauptet, dass er die Brudervölker anderer Länder befreien wolle, indem er ihre Städte zerstört. Die Besatzer und Widerstandskämpfer während des Zweiten Weltkriegs verstanden die Sprache des anderen nicht und hatten keine Erfahrung damit, in einem (sowjetischen) Staat zu leben. Wir haben nicht länger das Recht, Ukrainer Brüder zu nennen, denn als Putin den Krieg entfesselte, beging er einen wahrhaft biblischen Verrat. Das geschah bereits 2014: Die Krim wurde von der Ukraine kampflos übergeben, weil niemand glauben konnte, dass die ehemaligen Brüder dazu fähig wären, mit der Waffe in der Hand auf die Halbinsel zu kommen und dann die erste Phase des Kriegs im Donbass zu entfesseln. Zudem konnte Hitler nicht die ganze Welt mit Atomwaffen erpressen. Das tut die russische Staatspropaganda heute täglich mit Erfolg. In TV-Talkshows werden mit sadistischem Vergnügen mögliche Ziele für einen Atomschlag aufgelistet: Berlin, Paris, London. Diesen staatlichen Sadismus machte Präsident Putin persönlich salonfähig. Viele Jahre lang wurde er während seiner offiziellen Reden nur in dem Moment munter, in dem er von einer Wunderwaffe sprach, die die ganze Welt zerstören könne. Am 24. Februar schrieb ich eine Redaktionskolumne für die Novaya Gazeta in Moskau und beendete sie mit den Worten: „Der Krieg wurde von einer Person in wenigen Stunden entfesselt, der Weg zum Frieden wird für jeden von uns lang sein.“ Es scheint, dass wir heute erst am Anfang dieser Reise stehen. Wir unabhängigen Journalisten aus Russland können nur versprechen, dass wir nicht lügen oder unser Handwerk verraten werden. Sie halten die erste deutschsprachige Ausgabe der Novaya Gazeta Europe in Ihren Händen, in der wir über die Geschehnisse in Russland und Osteuropa berichten. Ich danke meinen Kollegen, die sich entschieden haben, im Exil für Menschenwürde und Berufsethos zu kämpfen, und deren Arbeit diese Publikation ermöglicht hat. Ich danke der Redaktion der taz für ihre Solidarität und Freundschaft in diesem Kriegsjahr. Und ich bin dem von Reporter ohne Grenzen gegründeten European Fund for Journalism in Exile (JX Fund) dankbar, dass wir unseren Beruf immer noch ausüben können. Die Novaya Gazeta ist Russlands älteste unabhängige Publikation, die nach Beginn des Kriegs verboten wurde. Am 1. April 2023 wird sie 30 Jahre alt. Wir, Journalisten dieser Zeitung im Exil, werden dafür sorgen, das sie nicht dem Vergessen anheimfällt. Kirill Martynow, Chefredaktuer der Novaya Gazeta Europe Impressum Koordination: Barbara Oertel, Tigran Petrosyan Auswahl der russischen Texte: Wjatscheslaw Polowinko Redaktion: Barbara Oertel, Gaby Coldewey, Gemma Terés Arilla, Übersetzung: Barbara Oertel, Gaby Coldewey, Gemma Terés Arilla Korrektur: Rosemarie Nünning Fotoredaktion: Isabel Lott Layout: Sonja Trabandt Illustration: Alisa Krasnikova Die Beilage entstand auf Initiative der taz Panter Stiftung Die Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Die russische Opposition ist noch zu schwach, um der Diktatur von Wladimir Putin etwas entgegenzusetzen. Trotzdem leisten viele weiterhin Widerstand. Denn Aufgeben ist keine Option Illustration: Alisa Krasnikova Ein langer Weg zum Frieden 02 N ach einer kurzen Tauwetterphase zu Silvester hat sich Samara, eine Industriestadt mit über einer Million Einwohnern an der Wolga, Anfang Januar erneut in einen Eisblock verwandelt. Das Thermometer zeigt minus 30 Grad. Das Eis reflektiert spielerisch die Lichter der Girlanden, was die Stadt festlich erscheinen lässt. Musik erklingt und die Menschen haben es eilig, in den verbleibenden Ferientagen etwas Spaß zu haben. Beim Schein dieser Lichter, dem Klang von Musik und Festtagsstimmung werden in der Weihnachtsnacht Särge nach Samara gebracht. In der vereisten Erde müssen dringend Gräber für die Verstorbenen im ukrainischen Makijiwka ausgehoben werden. Wie viele Gräber? Und wie viele Soldaten sind im April im Zusammenhang mit dem Beschuss des Kreuzers „Moskwa“ gestorben? (Die „Moskwa“ sank am 14. April 2022 nach einem Raketenangriff vor Odessa; d. Red.) Genau weiß das niemand. In der Nacht zum 1. Januar zerstörten ukrainische Luftangriffe mit dem Mehrfachraketenwerfersystem Himars in der Stadt Makijiwka bei Donezk die Berufsschule Nr. 19, die in eine Kaserne für russische Truppen umgewandelt worden war. Laut dem Webportal New Europe ist dort seit dem 17. Dezember 2022 eines der Bataillone des 44. Regiments der 2. russischen Gardearmee stationiert. Einberufene Soldaten aus der Region Samara wurden diesem Regiment zugeteilt. Niemand nennt die genaue Zahl der Toten. Der Militärkommissar der Region Samara mit Namen Wdowin kündigte an, sie würden nicht namentlich genannt: Es würden keine Listen veröffentlicht, damit der ukrainische Geheimdienst diese Informationen nicht bekomme. Die Menschen in Samara versuchen, auf eigene Faust zumindest einige Informationen zu sammeln und ihre eigenen Berechnungen anzustellen. „Drei Bataillone sind im Dezember dorthin aufgebrochen“, raunt eine Frau bei der Beerdigung eines Wehrpflichtigen in Nowokuibyschewsk. „Das erste und zweite Bataillon wurden am 28. Dezember an die Front geschickt, ich weiß es genau, beide Söhne eines Nachbarn wurden eingezogen. Das dritte Bataillon blieb in der Kaserne, offensichtlich warteten alle auf Ausrüstung. Doch zu einem Kampfeinsatz kam es gar nicht erst.“ Laut den Informationen, die die Samaraner untereinander austauschen, kam die Ausrüstung nach und nach in Makijiwka an, sie wurde neben dem Gebäude der Berufsschule abgestellt, um den Feind unmittelbar nach den Feiertagen anzugreifen. Munition wurde in der Kaserne gelagert. Diese detonierte durch Raketeneinschläge und die Ausrüstung fing Feuer. Von dem dreistöckigen Gebäude blieben nicht einmal Ruinen übrig. Ein weiteres Regiment, das 43., das aus in der Region Samara mobilisierten Soldaten besteht, bleibt derweil in einer Ausbildungsbasis im Dorf Roschinsky, 20 Kilometer von Samara entfernt. Einem Bataillon gehören 580 Mann an. Anhand dieser Daten lässt sich abschätzen, dass sich zum Zeitpunkt des Einschlags ungefähr gleich viele Personen im Gebäude der Berufsschule aufgehalten haben. Der ukrainische Geheimdienst behauptet, dass es auch eine Spezialeinheit aus Verbindungsoffizieren, Artilleristen und Einheiten der russischen Garde gegeben habe, aber dieses Militärpersonal habe Silvester woanders verbracht. Es gibt auch das Gerücht, wonach sich einige Mobilisierte unerlaubt vom Einsatzort entfernt hätten, was ihnen das Leben rettete. In ukrainischen Quellen tauchten Daten über sechshundert Leichen auf, die in zwölf Lastwagen aus den Trümmern geholt worden waren. In Samara glaubt das niemand. Die Informationen, die in den ersten Tagen nach dem Angriff aufgetaucht sind, haben sich nicht geändert: 89 Leichen wurden identifiziert. Wie schon bei dem Kreuzer „Moskwa“ gelten die übrigen Soldaten als vermisst, sofern sie sich nicht selbst bei ihren Angehörigen gemeldet haben. Für Vermisste wird den Angehörigen keine Entschädigung gezahlt. Das Verteidigungsministerium machte die Mobilisierten selbst für ihren Tod verantwortlich: Sie hätten telefoniert und so den feindlichen Beschuss verursacht. Später tauchte ein Video im Internet auf: Ein großer und offensichtlich nicht mehr junger Mann mit entstelltem Gesicht stellt sich als Anton Golowinski vor und sagt, dass ein gewisser Oberst Enikejew, der ein Bataillon in eiAus Samara Irina Tumakowa und Wladimir Prokuschew (Mitarbeit) Viele russische Soldaten aus Samara und Umgebung sind an der Front im ukrainischen Makijiwka bei einem Angriff getötet worden. Die Behörden halten sich bedeckt. Angehörige machen sich selbst auf die Suche nach Informationen Was übrig blieb: ein Helm im ukrainischen Makijiwka, nach dem Beschuss einer Berufsschule in der Silvesternacht Foto: Alexander Ermochenko/reuters immer noch in Feierstimmung ist, trotz des ersten Arbeitstags im neuen Jahr. „Aleksej und ich haben gemeinsam gedient, ich war sein Kommandeur“, sagt Wjatscheslaw, ebenfalls ein Freund von Oberstleutnant Bachurin. „Dann trennten sich zum Teil unsere Wege. Ich ging in den Ruhestand, er setzte seinen Dienst fort und schrieb sich an der Militärakademie ein. Aber er musste bald wieder gehen. Er hatte dort seine Schwierigkeiten ... Keine guten Umstände. Es war ein Schwindel, viel zu viel ... Jedenfalls wurde er von seinen Polizeikollegen ausgetrickst und musste gehen. Im zivilen Leben konnte er sich nicht richtig zurechtfinden. Er versuchte, hier und dort zu arbeiten – auch bei mir, in meinem Unternehmen. Ich weiß nicht, wo er danach hinging. Aber seine Mutter brachte er aus Blagoweschtschensk nach Samara. Dort verkaufte sie alles und er kaufte ihr hier ein Haus, das er fertig bauen wollte.“ Zu Beginn der Mobilisierung hatte Oberstleutnant Bachurin nach Informationen der Novaya Gazeta Europe bereits zwei überfällige Kredite mit einer Laufzeit von fünf Jahren aufgenommen. Sein Freund ist überzeugt davon, dass Bachurin nicht wegen des Geldes in den Krieg zog. „Ljoscha war sehr glücklich, als er einberufen wurde“, ist sich Wjatscheslaw sicher. „Die Armee war sein Leben, sie war alles für ihn. Der Lohn war ihm egal, für ihn zählte nur der Dienst. Ich kündigte – die Gehälter in der Armee waren mickrig –, aber er blieb, um zu dienen. Die Mobilisierung war für ihn eine Gelegenheit, in dieses Soldatenleben zurückzukehren. Er war sich sicher, dass er nach dem Krieg bei der Armee bleiben würde. Wir alle wussten, dass fünf Divisionen der Luftlandetruppen dort eingesetzt werden würden, dass jetzt noch eine halbe Million Menschen mobilisiert werden. Doch Ljoscha wurde klar, dass er danach auf jeden Fall bei der Armee bleiben würde.“ Das 44. Regiment traf am 17. Dezember in der Ukraine ein. Der stellvertretende Kommandant Bachurin war für die Kampfausbildung der Einberufenen zuständig. Vielleicht schaffte er es sogar, sie auszubilden, allerdings lässt sich das nicht mehr überprüfen. „Als sie dort ankamen, hatten sie nur Maschinenpistolen, was nicht ausreicht, um auf Panzer zu zielen“, so Wjatscheslaw weiter. „Ich habe ihn gefragt: „Ljoscha, hast du etwas Schweres?“ Er sagte: „Nichts. Keine Panzer, keine Schützenpanzer, keine Panzerabwehrlenkwaffe (ATGM).“ Der Sarg mit dem Leichnam Bachurins wird unter Ehrensalut und Klängen der Nationalhymne in das Grab abgesenkt. In der Nähe warten noch zwei Gruben auf zwei weitere Tote aus Makijiwka. Sie bekommen keinen solchen Abschied. Nur auf einem einzigen Friedhof, an einem Tag und zeitlich versetzt, damit es nicht auffällt, und nur in Samara werden gleich drei Menschen beerdigt. Auf einem am Zaun angelehnten Kreuz in der Nähe der zweiten frischen Grube ist der zweite Name zu entziffern: Anatoly Potschinjajew, 48. Ein Spaziergang über den Rubischnifriedhof zeigt den Ablauf dieses Kriegs anhand der jüngsten Kreuze. Ende Juni und im Juli eroberten russische Truppen Sjewjerodonezk und Lyssitschansk. Im September starteten die ukrainischen Streitkräfte eine Gegenoffensive bei Charkiw und befreiten Balaklija und Isjum. In Russland begann nach einem entsprechenden Dekret von Putin die „Teilmobilmachung“. Die russischen Truppen mussten sich aus Cherson zurückziehen ... Jede dieser Phasen ist an neuen Kreuzen ablesbar, deren Datum sich um ein oder zwei Tage unterscheidet. Und das ist nur ein Friedhof in Samara, von dem wir bis jetzt nichts wussten. Wie viele Friedhöfe gibt es im ganzen Land, auf denen niemand bis jetzt die frischen Gräber zählen konnte? nem Saal versammelt hatte, um Präsident Wladimir Putin zuzuhören, alle getötet habe. Zu dem Video gibt es einen Nachtrag: Anton Golowinski ist kurz nach der Aufnahme des Videos an Verbrennungen gestorben. Wenn man an der Wohnung klingelt, in der Anton Golowinski gelebt hat, meldet die Gegensprechanlage einen Fehler. Seit September war dort niemand mehr. Ljuba, eine Nachbarin, die Anton seit seiner Kindheit kannte, sagt selbstbewusst: Das sei nicht er auf dem Video. Der echte Golowinski ist ihrer Meinung nach ein junger, dünner und kranker Mann. Er wurde tatsächlich im September einberufen, obwohl die Nachbarin immer noch nicht verstehen kann, wie es dazu kam. „Er scheint in der Psychiatrie gewesen zu sein, er war drogenabhängig“, sagt sie. „Dann war offensichtlich alles normal, er heiratete, zwei Kinder wurden geboren. Aber 2019 ist etwas mit ihm passiert, niemand weiß es. Er ist aus dem Haus gesprungen, nackt die Straße entlanggerannt, hat sich überall geschnitten ... Ich weiß nicht, wie sie ihn jetzt mitgenommen haben.“ Besagter Oberst Enikejew wurde bei dem Angriff auf die Kaserne offenbar nicht verletzt. Bis September arbeitete Roman Enikejew im regionalen Verkehrsministerium, von dort wurde er mobilisiert, erhielt das Kommando über das 44. Regiment und erklärte den Rekruten, dass „jeder Mann in Russland ein Krieger ist“. Verwandte der Einberufenen, die Enikejew unterstanden, sagen, dass er in der Nacht des 1. Januar nicht in der Kaserne gewesen sei. Niemand in Samara wusste, wann und wohin die Leichen gebracht werden würden. Ein Polizeiauto mit Blaulicht war beim Leichenschauhaus in der Tuchatschewskistraße im Einsatz, dann stellte sich heraus, dass in der Dserschinskistraße ein Sarg erwartet wurde. Später wurde klar, dass einige Leichen nach Samara gebracht worden waren, andere nach Nowokuibyschewsk, Mirny, Toljatti, Sysran sowie in andere Städte und Dörfer, wo Soldaten rekrutiert worden waren. Das ist logisch: Einerseits müssen die Helden zu Hause begraben werden, andererseits werden sich nicht zu viele Trauernde auf einmal versammeln. Niemand würde eine allgemeine Abschiedszeremonie für die Helden arrangieren. Alexander (Name geändert) ging zum Militärregistrierungsund Rekrutierungsbüro, um herauszufinden, wo sein Freund war. Der war im September einberufen worden, und seit Dezember hatte man nichts mehr von ihm gehört. Aber in dem Büro können nur Verwandte Auskunft erhalten. „Der Freund ist 42 Jahre alt“, erzählt Alexander. „Sagen wir so: Sein Arbeitgeber hat ihn hereingelegt und ihm zweieinhalb Millionen Rubel Schulden angehängt. Diese Schulden hat er seit fünf Jahren am Hals. Ich habe ihm gesagt: Melde Insolvenz an. Und dann kann die Mobilmachung. Er ist in den Krieg gezogen, um Geld zu verdienen. Er sagte, dass sie so und so viel für eine Verletzung versprechen. Nach dem Motto: Er verliert sein Bein und bekommt dafür drei Ljam“ (umgangssprachlicher Begriff für 1 Million Rubel; d. Red.). Im Dorf Mirny wird das Weihnachtskonzert am 7. Januar im Neftjanik-Club abgesagt. Aber niemand traut sich, die festliche Dekoration von der Straße zu entfernen. Unter dem Lichtschein der Neujahrsgirlanden stehen im Foyer zwei Särge. Frauen in Schwarz und mit geschwärzten Gesichtern sitzen nebeneinander auf Stühlen. Die Dorfbewohner sind gekommen, um ihr Beileid zu bekunden, beugen sich über die Fenster in den Deckeln der Särge, betrachten die Wachsmasken, legen Nelken nieder und gehen wieder. Der Geruch von Melissengeist hängt in der Luft. Auf einem der Kränze auf dem ersten Sarg ist zu lesen, dass der Verstorbene Dmitri Alexandrowitsch hieß. Auf dem zweiten Sarg liegen mehrere Kränze, sodass der Name nicht sichtbar ist. In der Nähe der Trauerhalle läuft ein stämmiger betrunkener Mann in ausgelatschten Turnschuhen herum. Er weint, aber nicht um die Toten. Sein Name ist Andrei, er wurde wie die anderen auch einberufen, nur ist er noch nicht in den Krieg gezogen. Am Tag nach der Beerdigung muss Andrei ins Ausbildungslager nach Roschinskoje zurückkehren, die Neujahrspause ist vorbei. Eine Angestellte des Neftjanik-Clubs, eine hübsche blonde Frau, versucht, ihn zum Weinen nach draußen zu bringen. Aber ihr Bedürfnis, dabei ein trauriges Gesicht zu machen, hindert sie daran, entschlossen zu handeln. Als der Mann hört, dass die Presse da ist, platzt es aus ihm heraus. „Ich bin genau wie sie“, sagt er und beginnt schnell zu erzählen, „Ich bin 50 Jahre alt, und sie haben mich illegal weggebracht. Ich ging auf den Wehrbeauftragten zu, sah ihm in die Augen und er sah mich so an – ohne jegliche Scham, ohne schlechtes Gewissen ...“ Ohne ihre Lippen zu spitzen wiederholt die Frau: „Mobilisierung bis zum Alter von 50 Jahren ...“ Dann zieht sie den armen Mann an seinem anderen Arm in Richtung Ausgang. „Ich habe früher als Fahrer gearbeitet“, fährt Andrej fort. „Mir wurde gesagt, ich solle Maschinengewehrschütze werden. Aber ich bin in einem Alter, in dem ich nicht mehr so gut sehen kann. Und morgen fahre ich schon dorthin. Wir wurden am 27. Oktober einberufen. Ich war der Letzte, der zum Einberufungsamt ging. Ich habe einen Nabelbruch! Dann haben sie uns an Silvester beurlaubt, und morgen geht es los. Was soll ich denn jetzt tun?!“ Er macht sich erneut von der blonden Frau los und lässt sich auf einen Stuhl im Eingangsbereich fallen, krempelt seine Jogginghose hoch und zeigt seine dünnen Schienbeine voller Geschwüre. Dann springt er auf, zieht seinen Pullover hoch und deutet auf seinen Nabelbruch. „Genau so waren sie, ich kannte die beiden“, sagt er und zeigt mit dem Finger auf die Särge. „Eine medizinische Kommission hat uns untersucht, aber sie hat nichts gesehen. Ich habe eine Eisennadel in meinem Bein und es heißt, dass die Minen darauf sofort reagieren. Deswegen haben sie keinen mit Implantaten mitgenommen – nur mich. Ich kann nicht dahin! Aber ich meine, ich kann nirgendwo anders hin. Und sagen Sie mir: Warum?! Der Militärkommissar fragte mich: Willst du dienen? Ich sagte nein, ich kann das aus gesundheitlichen Gründen nicht. Und er antwortete mir: „Du wirst trotzdem dienen ...“ Bestattungen gibt es am 8. Januar in vielen Städten und Dörfern in der Region. In Samara melden Unbekannte eine Kundgebung auf dem Platz des Ruhmes an. Von den Behörden wird eine Trauerfeier gefordert, und denjenigen, die es wagen, an der Kundgebung teilzunehmen, wird kostenloser Wodka versprochen. Etwa 40 Minuten nach Beginn der Kundgebung ertönt auf dem Platz laute Musik, die die Polizisten in Neujahrsstimmung versetzt. Es sind etwa ein halbes Dutzend, und neben ihnen kommt ein Schawarmaverkäufer hinter seinem Stand hervor. Die Autorin des Textes zieht ihre Kamera aus der Tasche. Sie wird umgehend festgenommen, weil sie an einer illegalen Massenveranstaltung teilgenommen hat. Die nächsten zwei Stunden verbringt sie auf der Polizeiwache und kann deshalb nicht herausfinden, wie viele Einwohner von Samara zu der Trauerfeier gekommen sind. Währenddessen wird in Marjewka, ebenfalls in der Region Samara, der einberufene Alexander Androsow beerdigt. Er war 38 Jahre alt. Seine Mutter blieb allein im Dorf zurück, während er mit seiner Frau und Tochter in Samara wohnte. Dort arbeitete er als Fahrer für einen Lebensmittelladen. Eines Tages wurde er betrunken am Steuer erwischt. Dann tauchte sein Name in Polizeiberichten im Zusammenhang mit einem Diebstahl auf: Einem Dorfbewohner waren eine Autobatterie, ein Ersatzrad und Benzin entwendet worden. Sein Klassenkamerad Wjatscheslaw erklärt sich bereit, mehr über ihn zu erzählen: „Sascha war ein ruhiger, gelassener, aktiver, geselliger, positiver Mensch. Fast jede Woche kam er, um seiner Mutter zu helfen. Ansonsten: Arbeit, Familie, Hobbys. Er liebte es zu angeln. Er verdiente gutes Geld, führte ein gesundes Leben, trank und rauchte nicht.“ Alle fünf Jahre sahen sich die beiden Schulfreunde beim Klassentreffen wieder – das letzte Mal im Juni 2022. Seit vier Monaten war Krieg, aber auf der Party wurde nicht darüber gesprochen. „Das Thema Krieg tauchte nicht einmal auf “, sagte Wjatscheslaw. „Das sind eben Militäreinheiten und sie kämpfen.“ Als im September die Teilmobilmachung begann, erhielt auch Androsow die Einberufung. Er wurde von der militärischen Meldeund Einberufungsstelle zu seiner Mutter nach Marjewka gebracht. Er ging zum Einberufungsamt, und ein paar Tage später verabschiedete er sich von seiner Familie. Er ging „zum Einsatzort“, als ob er angeln gegangen wäre. Im Krieg wollte Androsow das tun, was er in friedlichen Zeiten immer tat: Auto fahren und kaputte Technik reparieren. „Saschas größte Sorge war, ob er nach seiner Rückkehr seine alte Stelle wiederbekommen würde. Ihm wurde versprochen, dass sein Auto bei ihm bleibt und er nach dem Einsatz getrost wieder zurückkehren könne“, erinnert sich Wjatscheslaw. Am selben Tag findet in der Trauerhalle in Nowokuibyschewsk die Beerdigung für den Fähnrich Georgi Loschkin statt. Rechts neben dem Sarg steht eine weinende Frau. Hinter ihr, wie ein gepanzerter Block, sind eine Reihe älterer Männer mit regungslosen Gesichtern zu sehen, die wie Veteranen des Zweiten Weltkriegs gekleidet sind – mit Uniformen voller Orden und Medaillen. Als einer von ihnen zum Rauchen hinausgeht, antwortet er auf die Frage, ob er den Verstorbenen gekannt habe, lächelnd: „Nein, natürlich nicht. Wir sind vom Bund der Reserveoffiziere. Wir werden immer gerufen, wenn Soldaten die letzte Ehre erwiesen wird.“ Die Frau, die am Sarg weint, schreit plötzlich laut. „Weg damit!“ ist zu verstehen. Der Schrei wird von unterdrücktem Schluchzen abgelöst, und für einen Moment herrscht Stille im Saal. Ein Priester kommt. Zwei Frauen mit Kopftüchern, die sich durch den engen Raum quetschen, verteilen an jeden Anwesenden eine Kerze. Einer nach dem anderen zündet die Kerzen an, der Priester hält eine Trauerrede. Es ist ein wahres Wunder, dass die Leichenhalle nicht in Brand gerät. Georgi Loschkin war 46 Jahre alt. Sein ältester Sohn arbeitet als Arzt in Nowokuibyschewsk. Der jüngste ist neunzehn Jahre alt. Loschkin selbst arbeitete als Wachmann in einer Ölraffinerie und bekam einen geringen Lohn. Als die Mobilmachung begann, meldete er sich als Freiwilliger. „Er war ein kluger Mann“, erinnert sich Loschkins Nachbarin Marina. „Ich habe erst neulich erfahren, dass er seine Frau belogen hat: Ihr hatte er gesagt, dass ein Einberufungsbescheid gekommen sei. Unsere Söhne sind Klassenkameraden und so erfuhren wir, dass er sich freiwillig gemeldet hatte. Das macht nicht jeder. Es war also ein Ruf der Seele, um für unser Land zu kämpfen. Es geht doch um unsere Rus, die immer irgendwie ...“, fügt sie hinzu und lässt den Satz über das historische Gebiet in Osteuropa, das mehrheitlich von Ostslawen bewohnt war, unvollendet. Marina hat einen Mann und einen Sohn. Auf die Frage, ob sie sich wünsche, dass ihre Männer für das Vaterland kämpfen, antwortet sie deutlich: „Nein, natürlich möchte ich das nicht.“ Einen Tag später werden in Nowokuibyschewsk drei weitere der in Makijiwka Getöteten beigesetzt. Am Abend findet im Kulturzentrum ein Weihnachtskonzert statt. „Warum sollten wir das Konzert absagen?“, fragen ein Mitarbeiter des Kulturzentrums und ein Sicherheitsmann. Bekannt ist bis jetzt, dass zehn Männer aus diesem kleinen Dorf im Krieg gestorben sind. „Aber wir wissen nicht genau, wie viele unserer Leute eingezogen worden sind. Und niemand sagt etwas. Unter den Trümmern befinden sich noch viele Leichen“, sagt der Mitarbeiter. Als die Autorin dieses Textes das Gebäude verlässt, stellt sich heraus, dass sie ihren Mietwagen auf dem Parkplatz des Kulturzentrums nicht ordnungsgemäß abgestellt hatte. Ein Polizeikommissar sorgt für die Einhaltung der Straßenverkehrsordnung in der Stadt. Allerdings fordert er statt des Führerscheins den Reisepass und den Presseausweis. Statt um ein Verkehrsdelikt geht es jetzt plötzlich um eine Strafe wegen „illegaler Befragung der Einwohner“. Dem Gespräch folgt ein zweistündiger Aufenthalt auf der Polizeiwache. Am Morgen des 9. Januar wird Oberstleutnant Aleksej Bachurin, stellvertretender Kommandeur des 44. Regiments, vom Offiziersverein aus Samara in einer feierlichen Zeremonie verabschiedet. Der Gedenkgottesdienst findet in derselben Halle statt, in der die Kinder am Tag davor um den Weihnachtsbaum herumgetanzt sind. In dem Saal sind die Spuren des gestrigen Festes beseitigt, sodass an den Wänden wieder Porträts von Stalin und anderen „großen Marschällen“ hängen. Die Schautafel „Streitkräfte der Russischen Föderation“ mit dem Porträt von Sergej Schoigu wird mit dem Zitat des Verteidigungsministers eröffnet: „Wir brauchen eine starke, professionelle und gut bewaffnete Armee für ein sicheres und friedliches Wachstum unseres Landes.“ Als der Sarg Richtung Friedhof getragen wird, dient dem Umzug die Neujahrsdekoration des Platzes vor dem Opernund Balletttheater als Kulisse. Der Leichenwagen fährt durch die Stadt, die 03freitag, 20. januar 2023 Trauerfeier im Leichenschauhaus von Nowokuibyschewsk Foto: Irina Tumakova 04 R usslands Wladimir Putin glaubt wahrscheinlich selbst, dass es seine Mission sei, Amerika zu besiegen, eine neue Weltordnung zu schaffen, in der Russland das Sagen haben wird, und so weiter und so fort. Aber er irrt sich. Seine Mission war es, Russland zu vernichten. Und das hat er auch geschafft. Er kann nun in Frieden gehen. Tatsächlich ist dies das Einzige, was er erreicht hat, sonst nichts. Die Wirtschaft schrumpft, die demografische Situation verschlechtert sich, die technologische Rückständigkeit vertieft sich, überall herrscht eine überwältigende Heuchelei – all dies sind Errungenschaften seiner Regierungszeit. Die Aufzählung ließe sich noch lange fortsetzen. Krieg und Massaker sind der Höhepunkt. Für die Welt ist ein Land verschwunden, mit dem man zusammenarbeiten und interagieren kann. Nun bleibt nur ein Gebiet, von dem eine Bedrohung ausgeht. Um diese abzuwehren, muss man sich zusammenschließen. Ein Land ist mehr als ein Gebiet. Das Territorium geht nirgendwohin, und die Menschen werden zumeist auch bleiben: Selbst heute ist es keine Mehrheit, die Russland verlässt. Ein Land ist eine Kultur, eine Lebensweise, eine Identität, eine Art, in der Welt gesehen zu werden. Das Land ist ein Bindeglied zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit – Kontinuität –, und die Zukunft betrifft sowohl das, was heute ist, als auch das, was früher war. Unser Land ist schon einmal verschwunden – es wurde von den Bolschewiken zerstört. Nach dem Oktoberputsch gab es ein Territorium, auf dem gewisser Wahnsinn stattfand, aber zu Russland, zu seiner Kultur, zu seiner Geschichte hatte das keinen Bezug mehr, außer zu den patho lo gischsten Momenten – wie der Zeit der Herrschaft Iwans des Schrecklichen. Das Land wurde zu einer Negation der russischen Geschichte und Kultur, es tötete oder verbannte diejenigen, die das alte Land symbolisierten, und ließ die Erinnerung an diejenigen, die vor 1917 gestorben waren, in Vergessenheit geraten oder entstellte sie. Danach erlebte das Land jahrzehntelang eine lange und schmerzhafte Wiederbelebung – aber es gelang ihm nicht, jemals wieder ganz zu sich zu kommen. Jetzt ist etwas ganz Ähnliches passiert. Bis vor Kurzem wurde das Wort „Russland“ sowohl mit schlechten als auch mit guten Dingen in Verbindung gebracht – Diktatur, Stalin, Lager, aber auch russische Kultur, Aufbruch ins All, Sieg. Aber das ist alles Vergangenheit. So wie einst die Worte „Deutschland“ oder „deutsch“ nicht mit Goethe oder den großen deutschen Wissenschaftlern, sondern mit der SS, dem wahnsinnigen Führer und den Öfen von Auschwitz und Treblinka assoziiert wurden, so wird heute alles, worauf das Adjektiv „russisch“ angewendet wird, nur als Tod, Zerstörung, Aggression und Lüge wahrgenommen. Und das wird lange so bleiben! Das Land ist verschwunden. Und nicht nur das: Alles, was wir seit Ende der achtziger Jahre aufgebaut haben, ist zerstört worden. Es gibt keine russische Kultur. Ja, die Opernsaison der Mailänder Scala wurde mit Modest Mussorgsky eröffnet und Anton Tschechow wird an allen Theatern der Welt inszeniert. Aber wenn es früher hinter diesen Namen etwas gab, was man große russische Kultur nannte, so stehen Alexander Puschkin oder Pjotr Tschaikowsky heute für sich allein da, ohne Bezug zu einem kulturellen Kontext. Sie sind da, doch hinter ihnen gähnt nichts als Leere. Eine russische Armee gibt es nicht mehr, es gibt nur eine gefährliche bewaffnete Gruppe, die in der Ukraine den Tod sät. Denn eine Armee verteidigt ihr Land und agiert nicht wie Banditen in einem benachbarten Land, ohne ein anderes Ziel als die Verwirklichung vager Fantasien in der ersten Person. Eine moderne Armee ist eine Einheit und besteht nicht aus sich bekriegenden Privatarmeen. Eine moderne Armee hat Disziplin. Dort kommt es auch zu Exzessen, aber sie bestraft Vergewaltiger und Plünderer, anstatt sie zu ermutigen, eine Stadt zu plündern oder Einheiten von Verbrechern den Titel der Garde zu verleihen. Es gibt keine Armee mehr. Mit dem Wort Russland verbindet man seit Peter dem Großen die Vorstellung von militärischer Macht. Jetzt hat Putin der Welt gezeigt, dass es überhaupt keine Macht gibt. Dies ist bereits gefährlich für die Sicherheit des Gebiets, das Russland bis vor Kurzem war. Stalins erfolgloser Winterkrieg gegen Finnland (er dauerte von November 1939 bis März 1940 und offenbarte Schwächen der sowjetischen Armee; d. Red.) veranlasste Hitler zum Einmarsch in die UdSSR – warum nicht angreifen, wenn die Rote Armee schwach war? Die von der Nato ausgehende Bedrohung wurde natürlich von unseren Behörden erfunden, wohingegen die Bedrohung durch China oder einige Taliban sehr real ist. Ihr entschlossenes Handeln gegenüber benachbarten Gebieten ist wahrscheinlicher geworden. Früher gab es (in den Augen der Welt) ein militärisch starkes Land und jetzt, egal wie viele Trickfilme über Wunderwaffen gezeigt werden, egal wie viele Paraden abgehalten werden, ist alles, was übrig bleibt, ein Gebiet, das für jeden Aggressor zugänglich ist. Auch in Russland gibt es eigentlich keinen Präsidenten. Es ist nicht so, dass er keine Legitimität durch Wahlen hätte. Ein Präsident, König oder Sultan ist jemand, der die Ordnung aufrechterhält (nicht unbedingt die verfassungsmäßige, aber eine gewisse) und mit der Außenwelt und dem eigenen Land kommuniziert. Die Ordnung ist ebenso wie die Verfassung schon lange nicht mehr gegeben – Brände, schmutzige Abwässer, Nichteinhaltung eingegangener Verpflichtungen (bald wird man im Gefängnis landen, wenn man offizielle Versprechen der letzten Jahre veröffentlicht, denn der Staat wird diskreditiert). Doch Putin verweigert die Kommunikation. Er trat zum Beispiel nicht auf dem letzten G20-Gipfel auf, der eine großartige Gelegenheit geboten hätte, der Welt zu erklären, dass sie im Unrecht sei, während Putin im Gegenteil in allem recht habe. Auch mit seinen eigenen Leuten will er nicht kommunizieren – er hat die Pressekonferenz und die verfassungsmäßig vorgeschriebene Rede vor der Föderationsversammlung (sie besteht aus beiden Kammern des Parlaments; d. Red.) abgesagt, genauso wie den Neujahrsempfang – er will nicht einmal zu „seinen Getreuen“ sprechen. Vor nicht allzu langer Zeit trat Putin auf dem Valdai-Forum (einem seit 2004 jährlich im Herbst in Russland stattfindenden Treffen von Journalisten, Politikern, Experten/Wissenschaftlern und Personen des öffentlichen Lebens aus Russland und anderen Ländern; d. Red.) auf. Dort sagte er: „Warum brauchen wir eine Welt ohne Russland?“ Genau diese Art von Welt – ohne Russland –, ist dank Wladimir Putins Bemühungen im Jahr 2022 entstanden. Russlands Präsident Wladimir Putin bei dem Besuch eines interaktiven OpenAirMuseums über den Zweiten Weltkrieg auf dem Roten Platz im vergangenen November Foto: Sergei Bobylev/TASS/imago Von Leonid Gozman Putin hat seine Mission erfüllt, er kann jetzt gehen Die Bilanz von Russlands Präsident ist verheerend – wirtschaftlich, demografi sch und politisch. Das Adjektiv „russisch“ steht für Tod, Zerstörung, Aggression und Lügen. Und das auf lange Zeit 05freitag, 20. januar 2023 V or einem Jahr, Anfang 2022, hatten wir gerade erst begonnen, nach zwei schrecklichen Covidjahren Luft zu holen, und wir glaubten, dass allmählich eine Rückkehr zum normalen Leben beginnen würde. Alle stritten sich heftig über Impfungen und Impfstoffe, über das „Maskenregime“ und andere Verbote. Und vor allem – ob es notwendig sei, QR-Codes einzugeben, um Zugang zu einem Café, Theater oder einer Ausstellung zu erhalten. Wo sind jetzt – zu Beginn des Jahres 2023, in der Welt nach dem 24. Februar 2022 – diese hitzigen Debatten geblieben? Und wo sind sie hin, die Probleme, die uns am wichtigsten erschienen? Sie wurden in den Hintergrund gedrängt, und alles wird jetzt von Wladimir Putins „Spezialoperation“ und ihren Folgen beherrscht. Das Wichtigste – abgesehen von dem Verlust an Menschenleben, den Katastrophen und der Zerstörung – ist der Zustand eines großen Teils der russischen Gesellschaft, der von einer politischen Farbenblindheit betroffen ist: es ist der Verlust – unter dem Einfluss ohrenbetäubender Propaganda – der Fähigkeit, Gut von Böse, Wahrheit von Lüge sowie Schwarz von Weiß zu unterscheiden. Das passiert nicht zum ersten Mal: Unter dem Einfluss einer ähnlichen Art von Propaganda während der So wjetzeit glaubten zig Millionen Menschen an die Existenz von „Volksfeinden“, „ausländischen Spionen“ und „TrotzkiSinowjew-Mördern“. (Leo Trotzki und Grigori Sinowjew waren marxistische Theoretiker und führend in der Russischen Revolution. Unter Stalins Herrschaft fielen sie in Ungnade. Trotzki wurde im Exil von einem sowjetischen Agenten ermordet, Sinowjew in Moskau hingerichtet; d. Red.) Die Menschen glaubten daran, dass die böse Nato 1968 die Tschechoslowakei einnehmen wollte und nur der Einmarsch von Truppen aus den Ländern des Warschauer Pakts diesen heimtückischen Plan vereitelte. Sie glaubten, dass es notwendig war, 1979 ein „begrenztes Kontingent“ sowjetischer Truppen nach Afghanistan zu schicken, damit nicht die USA das Land einnahmen. Und sie glaubten daran, dass der Physiker Andrei Sacharow ein „Verräter“ war, der Schriftsteller Alexander Solschenizyn ein „Verleumder des Sowjet systems“ und der Dichter Joseph Brodsky ein „Parasit“. Derartiges geschah natürlich auch in den postsowjetischen Jahren. So glaubten viele, dass der demokratische Präsident Boris Jelzin im Herbst 1993 die Rebellion des reaktionären und „rotbraunen“ Parlaments niedergeschlagen hatte. Oder sie glaubten, dass die Revolte im Donbass im Frühjahr 2014 nicht von aus Russland entsandten Interventionisten ausgelöst wurde, sondern von „zur Verzweiflung getriebenen Bergarbeitern und Traktorfahrern“, die Waffen und Ausrüstung im nächstbesten Militärgeschäft gekauft hatten. Aber so etwas wie nach dem 24. Februar 2022 hat es noch nicht gegeben. Anscheinend haben wir sowohl die Fähigkeit (und den Wunsch) der Bürger, unabhängig nach Informationen zu suchen, als auch die Macht der Propaganda falsch eingeschätzt. Täglich wird ein und dasselbe gepredigt: Russland ist am besten, deshalb hassen alle das Land und versuchen es zu schwächen. Wenn ein gewöhnlicher Mensch anfängt, solche Dinge zu wiederholen – dass er der Beste sei und deshalb jeder ihn hasse –, wird er als schwer krank angesehen und zu einem Arzt geschickt. Und wenn Beamte, Abgeordnete und Propagandisten jeden Tag märchenähnliche Geschichten erzählen („Wissen Sie etwa nicht, dass alle anderen nichts taugen, aber wir großartig sind?“), wird dies als etwas ganz Selbstverständliches hingenommen. Das gilt auch für Argumente, dass die Ukraine gar kein Staat sei und es keine ukrainische Sprache gebe, sondern nur ein verzerrtes Russisch. Dass in der Ukraine „Nazis“ und „Bandera-Leute“ an der Macht seien. Dass die Nato einen Angriff auf Russland plante und Putin ihnen nur wenige Stunden voraus war. Dass die USA und andere europäische Länder „die Nazis mit Waffen versorgen, wie während des Großen Vaterländischen Krieges – ihre Väter und Großväter“ (ich stelle fest: Die Erwähnung der Anti-Hitler-Koalition wurde noch nicht aus den Geschichtsbüchern entfernt). Dass Russland in seiner Geschichte „niemals jemanden angegriffen hat“ (auch hier wurden Verweise auf die vielen Kriege, die das Russische Reich begonnen hat, noch nicht aus Lehrbüchern und Büchern entfernt). Es sei daran erinnert, dass die Politik, die auf angeblich „historischen Rechten“ basiert und im Namen der Rückgabe „historischer Territorien“ gemacht wird, kurz und deutlich als Revanchismus zu bezeichnen ist. Jedoch genau das ist die Art von Politik, die von Putins Regierung verfolgt wird. Sie geht persönlich vom Präsidenten aus, der von der Idee besessen ist, das ehemalige Sowjetimperium (oder zumindest den größten Teil davon) wiederzubeleben. Wie in dem Roman „Die bewohnte Insel“ der Brüder Arkadi und Boris Strugatzki. Dort wurde mit den ehemaligen Provinzen eines alten Reiches, Khonti und Pandeya, die in schwierigen Zeiten ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, wie folgt verfahren: Es galt „die Bastarde zurückzubringen, nachdem sie schwer bestraft worden waren“. Diese Idee ist offensichtlich aussichtslos – kein einziges zusammengebrochenes Imperium konnte sich später auch nur teilweise erholen. Darüber hinaus ist das im 21. Jahrhundert hoffnungslos veraltet, wo die wichtigste Ressource für Entwicklung und die Grundlage der Wettbewerbsfähigkeit nicht Territorien, sondern Köpfe sind – intellektuelles und wissenschaftliches Potenzial. So würde man beispielsweise in Großbritannien einen Politiker für verrückt erklären, der ernsthaft über „historische Rechte“ auf dem Territorium des ehemaligen Imperiums redete und anböte, sie „in ihren Heimathafen zurückzubringen“. Oder der sich in einem fremden Land für den „Schutz englischsprachiger Bürger“ einsetzen würde, indem er die „britische Welt“ mit Gewalt dorthin bringt. Oder der sagte, dass „die Grenzen Großbritanniens nirgendwo enden“. Gleiches gilt für andere ehemalige Imperien wie Frankreich, Deutschland oder die Türkei. Auch in Litauen fordert niemand, der bei klarem Verstand ist und ein gutes Gedächtnis hat, die Ausdehnung auf die Grenzen des Großfürstentums Litauen. Dieses erstreckte sich zu Beginn des 15. Jahrhunderts von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Nun spricht Präsident Wladimir Putin in seiner Neujahrsansprache vom Schutz „seines Volkes“ in „historischen Territorien“ (wie erwähnt, gehörten sie nie zu den Vorgängern des heutigen Russlands). Ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft argumentiert jedoch bereitwillig im Sinne dieses Mainstreams. Es ist offensichtlich egal, dass es Häuser ohne Gas und Anschluss an die Kanalisation gibt, erbärmliche Renten und Arbeitslosigkeit, kaputte Straßen und undichte Dächer. Alle sind überwältigt von einem Gefühl des Stolzes über die „Rückgabe“ dessen, was ihnen nie gehört hat. Und es herrscht eine böswillig spöttische Freude darüber, dass es in den Städten der Ukraine kein Licht und keine Heizung gibt. Über eine weitere schwere Krankheit sprach Jan Ratschinski, als er 2022 den Friedensnobelpreis für Memorial entgegennahm: die Sakralisierung der Staatsmacht als höchsten Wert, die Proklamation des absoluten Vorrangs dessen, was diese Macht als „Staatsinteressen“ ansieht, die dem Einzelnen, seiner Freiheit, Würde und seinen Rechten übergeordnet sind. Ein verkehrtes Wertesystem, in dem Menschen nur entbehrliches Material zur Lösung staatlicher Probleme sind.“ Deshalb wird öffentlich erklärt, dass der Sinn des Lebens darin bestehe, es um des Staates willen aufzugeben, obwohl der Sinn des Lebens nur die Fortsetzung des Lebens sein kann und nicht der Tod für den Staat und dessen Interessen. All dies ist eine absolute Blaupause der Grundlagen des stalinistischen Polizeistaats, wo der Mensch immer ein „Rädchen“ und „Staub unter den Füßen“ war. Und wo das Leben keinen höheren Sinn hatte, als es für den Staat zu opfern. Aber glücklicherweise ist nicht jeder in der russischen Gesellschaft von diesen Krankheiten befallen. Die Mehrheit, um mit dem russischen Politiker und Menschenrechtler Lew Schlosberg zu sprechen, „bewahrt in unmenschlichen Zeiten das Menschliche in sich“. Sie bewahrt sich die Fähigkeit zu Empathie und Solidarität. Sie baut horizontale Strukturen auf, um Bedürftigen zu helfen. Sie hilft Flüchtlingen und politisch Verfolgten. Sie verteidigt ihre Bürgerrechte, fordert Frieden und Freiheit. Sie gibt den Lügen des Staats und der militaristischen Propaganda nicht nach und lässt dieses Gift nicht in ihre Seele eindringen. Und sie hilft anderen, sich dagegen zu wehren. Dies, und nur dies, gibt Hoffnung, dass die Dunkelheit verschwindet und die Morgendämmerung anbrechen wird. Training mobiler Einsatztruppen im Umland von Sankt Petersburg Foto: Russian Defence Ministry/ imago Das Z ist immer dabei: Anstecker am Revers eines Abgeordneten des russischen Parlaments, der Duma Foto: Marat Abulkhatin/imago Kunst im Dienst des Krieges: Ein Propagandaposter an der Frontseite des Moskauer Theaters Oleg Tabakow Foto: Victor Berezkin/imago Aus Boris Wischnewski Russlands Präsident knüpft an die Tradition des stalinistischen Staats an. Viele Russen haben die Fähigkeit verloren, Gut von Böse, Wahrheit von Lüge sowie Schwarz von Weiß unterscheiden. Nicht alle sind farbenblind Das Z, hier als Neujahrsdekora tion in Moskau, steht als Symbol für den Einsatz russischer Truppen in der Ukraine Foto: Evgenia Novozhenina/ reuters Das ganze Jahr 2022 über hat die russische Staatsmacht innerhalb des Landes Gegner der „militärischen Spezialoperation“ bekämpft. Seit Jahresbeginn wurden 180 Strafverfahren wegen der Verbreitung sogenannter Falschinformationen über das Vorgehen der russischen Armee in der Ukraine eingeleitet. Fast die Hälfte der Angeklagten hat das Land entweder verlassen oder befindet sich in Untersuchungshaft. Die aufsehenerregendsten „Fake“-Fälle wurden gegen Oppositionspolitiker und Aktivisten vorgebracht, aber mehr als die Hälfte der Angeklagten sind ganz gewöhnliche Menschen und nicht Personen des öffentlichen Lebens. S eit dem 4. März 2022 ist die Verbreitung „wissentlich falscher Informationen über den Einsatz der russischen Streitkräfte“ in der Ukraine ein Straftatbestand. Sofort begann das Untersuchungskomitee, den „Fake“Artikel 207.3 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation anzuwenden. Als Beweise dienen in der Regel Informationen des russischen Verteidigungsministeriums und sprachliche Expertisen, die die Aussage des Angeklagten und die offizielle Position der Behörden vergleichen. Die Rechts praxis in „Fake“-Fälle nimmt allmählich Gestalt an – und das eindeutig mit anklagender Tendenz. Die härtesten Urteile werden von Moskauer Gerichten verhängt. Der lokale Abgeordnete Alexei Gorinow (sieben Jahre Haft) und der Politiker Ilja Jaschin (acht Jahre und sechs Monate Gefängnis) haben bereits hohe Strafen erhalten. In den Regionen fällten die Gerichte weniger blutrünstige Urteile. So wurde ein Einwohner von Transbaikalien mit einer Geldstrafe von 1 Million Rubel (umgerechnet 13.300 Euro) belegt. Auf der Krim erhielt ein ehemaliger Mitarbeiter des Katastrophenschutzministeriums (MTschS) eine Bewährungsstrafe. In Orenburg wurde ein 22-jähriger Mann zu acht Monaten Besserungsarbeit nebst Abgabe von 10 Prozent seines Gehalts an den Staat verurteilt. Genau dieselbe Strafe wurde einem Archäologen aus Omsk auferlegt. Zu den bekannten Personen, gegen die Verfahren eingeleitet wurden, gehören die Bloggerin Veronika Belotserkowskaja, der Medienmanager Ilja Krasiltschik, die Journalisten Ruslan Lewiew und Maikl Naki, der Politiker Wladimir Kara-Murza, der Journalist Alexander Newsorow, der Schriftsteller Dmitri Gluchowski, die Künstlerin Irina Bystrowa sowie mehrere regionale und kommunale Beamte und Abgeordnete. Der Polizist Semiel Wedel (Sergei Klokow) Mitte März wurden die ersten Festgenommenen aufgrund des „Fake“-Artikels namentlich bekannt. Einer von ihnen war der Moskauer Ex-Polizist Semiel Wedel (Sergei Klokow). Derzeit wird sein Fall vor dem Bezirksgericht Perowski in Moskau verhandelt. Wedel wird vorgeworfen, drei Telefonate geführt zu haben. In einem soll er „vorsätzlich falsche Informationen“ über das Vorgehen des russischen Militärs unter den Bewohnern der Krim und der Region Moskau verbreitet haben. Die Verteidigung hält seinen Fall für einzigartig, da erstmals eine Person für ein Telefonat zur Rechenschaft gezogen wird. Der Fall des Ex-Polizisten wurde bekannt, nachdem er am 22. März in UHaft gebracht worden war. Zunächst trat er unter dem Namen Klokow auf, sein Pass ist aber auf den Namen Wedel ausgestellt. Was mit ihm nach seiner Festnahme geschah, erzählte er wenige Tage später seinem Anwalt Daniil Berman. Laut Wedel wurde ihm eine Tüte über den Kopf gestülpt, danach wurde er zum Dezernat gebracht, wo eine Haftbescheinigung ausgestellt wurde. Der Polizist wurde beschuldigt, militärische Falschmeldungen aus politischem Hass verbreitet zu haben (Artikel 207.3 Teil 2 Absatz e des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation). Die Tat wurde laut den Ermittlungen bei drei Telefonaten begangen. So habe Wedel am 9. März 2022 „nicht identifizierte Personen in der Republik Krim und der Region Moskau angerufen sowie öffentlich und vorsätzlich falsche Informationen als zuverlässige Nachrichten verbreitet“. Die Untersuchung geht davon aus, dass Wedel mit seinen Gesprächspartnern Nachrichten besprochen hat, die sie im Internet gelesen haben. Darunter war eine Nachricht über die Überführung getöteter russischer Soldaten von dem Territorium der Ukraine in die Republik Belarus zwecks Verbrennung in einem Krematorium, um deren Angehörigen keine Entschädigung zahlen zu müssen. Zudem diskutierte Wedel laut Ermittlungen mit nicht identifizierten Personen Nachrichten, wonach es auf dem Territorium der Ukraine keine Nazis gebe, und die Verbreitung gefälschter Informationen seitens Russlands über deren Anwesenheit. Ein weiteres Thema waren durch russische Soldaten ausgelöste Explosionen im Gebiet Rostow, um zu provozieren und die eigene Invasion in der Ukraine zu rechtfertigen. Die Abschriften von mindestens drei derartiger Gesprächen sind dem Fall beigefügt, aber aus den Unterlagen geht nicht hervor, von wem und auf welcher Grundlage das „Abhören“ durchgeführt wurde. Wie das Webportal „Anwaltsstraße“ herausfand, erzählte Wedel bei den Verhören, dass er 1984 in der ukrainischen Stadt Irpin geboren worden sei. Einige Zeit habe er auch in dem Ort Butscha gelebt, das während der Feindseligkeiten weltweit traurige Berühmtheit erlangte. Die Familie Wedel sei vor langer Zeit nach Moskau gezogen, aber Freunde und Verwandte seien in der Ukraine geblieben. Wedel selbst fuhr einmal im Jahr dorthin, um seine Großeltern zu besuchen. All diese Gespräche seien „emotionale politische Diskussionen“ gewesen, sagte Wedel im Verhör. Er räumte ein, aufgrund der Nachrichten „ein Durcheinander im Kopf “ gehabt und vielleicht „etwas verwechselt“ zu haben. Er bestätigte, er hätte Kontakt zu Bekannten aufgenommen, um etwas über das Schicksal von Freunden zu erfahren. Das alles bewahrte ihn jedoch nicht davor, in Haft genommen zu werden. Seit dem 18. März sitzt der ehemalige Polizist in Untersuchungshaft. Sein Fall kommt jetzt zum zweiten Mal vor Gericht. Am 10. August gab das Gericht von Perowsky die Dokumente an die Staatsanwaltschaft zurück, um Ungenauigkeiten in der Anklageschrift beseitigen zu lassen. Wedels Urteil ergeht 2023. Der lokale Abgeordnete Alexei Gorinow Ein weiteres hochkarätiges Verfahren wurde gegen den Stadtabgeordneten des Moskauer Bezirks Krasnoselski, Alexei Gorinow, eingeleitet. Die hohe Haftstrafe, zu der ihn das Gericht verurteilte, schockierte alle. Er bekam sieben Jahren Gefängnis, weil er sich während einer Sitzung der Abgeordneten gegen die Durchführung eines Malwettbewerbs für Kinder ausgesprochen hatte, da er dies zu einem solchen Zeitpunkt für unangemessen hielt. Gorinow wurde am 26. April festgenommen und kam per Gerichtsbeschluss am nächsten Tag in Untersuchungshaft. Der Untersuchungsausschuss brauchte für die Ermittlung in der Strafsache nur fünf Tage, das Meschanski-Gericht der Hauptstadt begnügte sich mit drei Prozesssitzungen und die Staatsanwaltschaft erledigte die Vorlage von Beweisen in ein paar Stunden. Gorinow wurde beschuldigt, „Fälschungen“ einer Gruppe von Personen verbreitet zu haben, dabei habe er seine Position aus Gründen des politischen Hasses missbraucht. Gorinow und die Leiterin des Stadtbezirks Krasnoselski, Elena Kotjonotschkina, so die Version der Ermittlungsbehörden, hätten am 15. März während einer Sitzung des Abgeordnetenrats „nach vorheriger Absprache“ eine Reihe von Erklärungen abgegeben. Diese hätten „unwahre Daten über die Streitkräfte der Russischen Föderation“ enthalten. Insbesondere habe Gorinow die „Sonderoperation“ in der Ukraine als Krieg bezeichnet und vom Tod ukrainischer Kinder gesprochen. Diese Angaben widersprächen laut Staatsanwaltschaft den 06 novaya gazeta europe Festnahme eines Demonstranten bei einer nicht genehmigten Protestaktion gegen den Ukrainekrieg im März 2022 in Sankt Petersburg Foto: Valentin Yegorshin/TASS/picture alliance Polizist Sergei Klokow Foto: Innenministerium der Russischen Föderation „Braucht ihr noch diesen Krieg?“ Abgeordneter Alexei Gorinow Foto: afp Von Andrei Karew Mit dem Straftatbestand „Falschnachrichten über die russische Armee“ geht der russische Staat immer öfter gegen Gegner des Ukrainekriegs vor. Diese kommen aus allen Teilen der Gesellschaft. Die härtesten Urteile in Form von jahrelangen Haftstrafen ergehen in der Hauptstadt Moskau ten versorgt wurde. Nachdem ihr ein Zahn gezogen worden war, bekam Sko tschi lenko gesundheitliche Probleme: Eine Komplikation trat auf, die Wunde war nicht genäht worden. Als Folge entzündete sich ein Lymphknoten, die in Untersuchungshaft verabreichten Antibiotika und Schmerzmittel reichten nicht aus. Bei der ersten Sitzung des Wasileostrowski-Gerichts verlas der Staatsanwalt die Anklage und die Anwälte legten ihre Ansichten zu dem Fall ausführlich dar. Sko tschi lenko bestreitet ihre Schuld. Sie befindet sich seit dem 13. April in U-Haft. Während all dieser Monate verlängerte das Gericht wiederholt die Haft von Skotschilenko, obwohl die Verteidigung mildere Maßnahmen forderte, zum Beispiel Hausarrest. Sitzungen, in den es um einzelne Maßnahmen ging, fanden soweit möglich ohne Zuhörer und Presse statt. Aber die eigentliche Prüfung des Falles führt der Richter in öffentlicher Sitzung durch. Die nächste Verhandlung ist für den 20. Januar 2023 angesetzt. Der Heizer Wladimir Rumjanzew Das letzte „Fake“-Urteil im Jahr 2022 wurde gegen Wladimir Rumjanzew, einen Heizer aus Wologda, verhängt. Für seine Antikriegshaltung erhielt er drei Jahre Gefängnis. Das Verfahren wurde eröffnet, weil der 61-Jährige mit seinem Untergrundfunk Falschinformationen verbreitet haben soll. Der Staatsanwalt hatte sechs Jahre Haft beantragt. Über den Angeklagten ist wenig bekannt. Wie der Fernsehsender Doschd berichtete, arbeitete er 20 Jahre lang als Heizer in der örtlichen Werkzeugmaschinenfabrik und nach deren Schließung als Schaffner in einem städtischen Trolleybus. Er nahm an einigen Protesten in seiner Heimatstadt teil. Und er betrieb eine eigene Amateurfunkstation, die mit bei der Onlineplattform AliExpress gekauften Sendern funktionierte. In den vergangenen acht Jahren war Rumjanzew regelmäßig auf Sendung und legte hauptsächlich sowjetische Hits auf. Das Signal seines Radiosenders ermöglichte es ihm, etwa zwei benachbarte Stadtteile abzudecken. Nach dem 24. Februar begann er, politischen Themen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Rumjanzew beschloss, seinen Nachbarn YouTube-Videos mit Oppositionellen, wie der Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulman, zu zeigen. Vermutlich zeigte ein Nachbar den Heizer bei der Polizei an. Im Sommer war er der erste in der Stadt, der wegen „militärischer Falschmeldungen“ angeklagt wurde. Rumjanzew wurde beschuldigt, aus politischem Hass „wissentlich falsche Informationen“ über Aktionen der russischen Armee veröffentlicht und verbreitet zu haben. Am 15. Juli wurde er in Untersuchungshaft genommen. Grund für das Strafverfahren waren nicht nur Rumjanzews Radiosendungen, sondern auch seine Posts in sozialen Netzwerken. Nach dem 24. Februar veröffentlichte er fast täglich Nachrichten über den Krieg. Rumjanzew erklärte sich für nicht schuldig. Sein Anwalt Sergei Tichonow erklärte, dass das Gericht mit dem Strafmaß für seinen Mandaten wegen dessen Alter und Gesundheitszustand unter der Mindeststrafe von fünf Jahren geblieben sei. offiziellen Angaben des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation. So hätten Gorinow und Kotjonotschkina „eine unbegrenzte Anzahl von Menschen in die Irre geführt“. Die Videoaufzeichnung der Sitzung wurde auf der Website und dem YouTube-Kanal des Abgeordnetenrats veröffentlicht. Außer gegen Gorinow wurde ein ähnliches Verfahren auch gegen Kotjonotschkina eröffnet, aber es gelang ihr, Russland zu verlassen. Sie wurde auf die internationale Fahndungsliste gesetzt und in Abwesenheit festgenommen. „Von welcher Art von Freizeit und Unterhaltung ist die Rede, wenn wir jetzt zu einer qualitativ anderen Lebensweise übergegangen sind? Wenn Kriegshandlungen auf dem Territorium eines benachbarten souveränen Staates stattfinden, eine Aggression unseres Landes. Können Sie uns bitte sagen: Von welcher Art von Malwettbewerb für Kinder aus Anlass des Kindertags und der Organisation von Tanzprogrammen aus Anlass des Tags des Sieges reden wir, wenn jeden Tag Kinder sterben? [...] Ich glaube, dass alle Bemühungen der Zivilgesellschaft darauf gerichtet sein sollten, den Krieg zu beenden und die russischen Truppen aus der Ukraine abzuziehen. Wenn einzelne Punkte der Pläne diesen Themen gewidmet gewesen wären, hätte ich gerne abgestimmt. Aber so werde ich persönlich nicht abstimmen, alles Weitere liegt in ihrem Ermessen “, sagte Gorinow. Für diese Äußerungen verurteilte Richterin Oksana Mendelejewa den Abgeordneten zu sieben Jahren Strafkolonie. Im September reduzierte das Moskauer Stadtgericht Gorinows Haftstrafe um einen Monat und entfernte den Punkt „vorherige Absprache“ aus der Anklage. Der Rechtsanwalt Dmitri Talantow Im Juni wurde ein „Fake“-Verfahren gegen Dmitri Talantow, den Präsidenten der Anwaltskammer der Republik Udmurtien, eröffnet. Talantow wurde in Ischewsk festgenommen, Sicherheitskräfte führten Durchsuchungen an mehreren Adressen durch, verhörten den Anwalt und brachten ihn am nächsten Tag nach Moskau. Dort schickte ihn ein Gericht in Untersuchungshaft. Mehrfach hatte Talantow in sozialen Netzwerken seine Antikriegsposition zum Ausdruck gebracht. Einen Streik in einem Einkaufszentrum in Krementschuk kommentierte er wie folgt: „Der heutige Horror in Krementschuk ist auch Teil der Entnazifizierung? Oder ist es Faschismus?“ Bereits im April gab es gegen den Anwalt erste Anzeigen wegen Veröffentlichungen in sozialen Netzwerken. Damals, berichtete Talantow, habe die Polizei Überprüfungen durchgeführt und von ihm Erklärungen gefordert. Im Sommer wurde jedoch ein ernsteres Verfahren eröffnet – nach der Anzeige des Mitarbeiters der Military Review, Roman Skomorochow. Am 3. April veröffentlichte Talantow einen Post auf seiner Facebook-Seite, in dem er die Aktionen der russischen Armee in Mariupol, Irpin und Butscha als „Nazipraktiken“ bezeichnete. Auf diesen Post und andere Aussagen von Talantow wurden die Strafverfolgungsbehörden durch die Anzeige aufmerksam. Zunächst wurde Talantow angeklagt, bei drei Anlässen militärische Fälschungen aus politischem Hass verbreitet zu haben. Bis September wurden die Anklagen verschärft und zwei weitere Anlässe hinzugefügt. Der Vorwurf lautete auf Anstiftung zum Hass unter Ausnutzung der offiziellen Position. Im Oktober wurde die Untersuchung des Falls abgeschlossen und die Unterlagen wurden dem Tscheremuschkinski-Gericht in Moskau übergeben. Es stellte sich jedoch heraus, dass die örtliche Zuständigkeit falsch festgelegt worden war. Das Gericht entschied, den Fall nach Udmurtien, an den Ort des „Verbrechens“, zu überweisen. Die Journalistin Marina Owsjannikowa Im August wurde die ehemalige Redakteurin des Ersten Kanals, Marina Owsjannikowa, zur Angeklagten in dem „Fake News“-Fall für einen Antikriegsstreikposten in der Nähe des Kremls. Das Gericht stellte sie unter Hausarrest, aber die Journalistin wartete nicht auf das Urteil, sondern floh aus Russland. Die ehemalige Mitarbeiterin des föderalen Fernsehsenders wurde berühmt, nachdem sie am 14. März in den Live-Nachrichten des Ersten Kanals hinter die Fernsehmoderatorin Jekaterina Andreewa getreten und ein Plakat gegen die Militäroperation auf dem Territorium der Ukraine und die Lügen der russischen Propaganda entrollt hatte. Gegen Owsjannikowa wurde eine Rechtsverletzung wegen eines Videos zu Protokoll genommen, das sie aufgenommen hatte, bevor sie mit dem Plakat in die Live-Sendung ging. Am nächsten Tag verhängte das Ostankinski-Gericht in Moskau eine Geldstrafe in Höhe von 30.000 Rubel (umgerechnet rund 400 Euro). Zusätzlich zu diesem Fall wurde eine weitere Ordnungswidrigkeit zu Protokoll genommen – wegen Diskreditierung des russischen Militärs, was sich auf die Plakataktion im Fernsehen bezog. Doch zu einer Prüfung dieser Verwaltungsakte kam es nicht. Das Gericht überwies die Angelegenheit zurück an die Polizei. Nach ihrem Auftritt mit dem Plakat feuerte der Erste Kanal Owsjannikowa. Daraufhin ging die Journalistin für einige Zeit nach Deutschland, wo sie sich bereit erklärte, für die Welt zu arbeiten. Anfang Juli kehrte Owsjannikowa nach Russland zurück und begründete dies mit familiären Umständen und dem Auslaufen des Vertrags. In der Folgezeit begann sie ihre Antikriegsposition aktiver zu vertreten. Sie kam zum Basmanni-Gericht, als gegen den Politiker Ilja Jaschin Zwangsmaßnahmen wegen „Fakes“ verhängt wurden. Owsjannikowa war gekommen, um den Oppositionellen zu unterstützen, und gab gegenüber einem Korrespondenten eine Erklärung ab. Dafür wurde sie zu einer weiteren Geldstrafe verurteilt. Am 15. Juli demonstrierte Owsjannikowa mit einem Antikriegsplakat auf der Sofijski-Uferstraße gegenüber dem Kreml. Dabei wurde sie nicht festgenommen. Ein paar Tage später jedoch statteten Polizisten ihr einen Besuch zu Hause ab und erstellten ein weiteres Protokoll wegen Diskreditierung der Armee. Das Moskauer Meschanski-Gericht verhängte erneut eine Geldstrafe in Höhe von 50.000 Rubel (umgerechnet 660 Euro). Am 10. August führten Sicherheitskräfte bei Owsjannikowa wegen des Straftatbestands militärischer „Falschmeldungen“ eine Hausdurchsuchung durch. Dabei ging es wieder um die Protestaktion am Kreml. Nach der Durchsuchung wurde die Journalistin zum Verhör gebracht und der „öffentlichen Verbreitung vorsätzlich falscher Informationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation aus Gründen politischen Hasses“ beschuldigt. Am nächsten Tag stellte das Basmanni-Gericht Owsjannikowa unter Hausarrest. Im Oktober nahm sie eine Videobotschaft für den Föderalen Strafvollzugsdienst (FSIN) auf. Darin schlug sie vor, Präsident Putin für die Teilmobilmachung eine Fußfessel anzulegen. Owsjannikowa gelang es, dem Hausarrest zu entkommen und Russland zu verlassen. Sie wurde auf die Fahndungsliste gesetzt und in Abwesenheit festgenommen. Der Politiker Ilja Jaschin Nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine war der ehemalige kommunale Abgeordnete Ilja Jaschin einer der wenigen russischen Oppositionspolitiker, die im Land blieben und eine klare Antikriegsposition einnahmen. Das rief die Behörden auf den Plan: Gegen den Oppositionellen wurde ein Verfahren wegen Verbreitung von „Falschnachrichten“ über die russische Armee aufgrund von „politischem Hass“ eingeleitet. Grund war der April-Stream von Jaschin, in dem er Kommentare von Vertretern der russischen und ukrainischen Seite verlas. Bereits vor der Einleitung des Verfahrens gegen den 39-jährigen Oppositionellen wurden Rechtsverstöße wegen Diskreditierung der Streitkräfte der Russischen Föderation (Artikel 20.3.3 des Gesetzbuchs für Ordnungswidrigkeiten) zu Protokoll genommen, für drei davon wurde eine Geldstrafe in Höhe von 90.000 Rubel (umgerechnet 1.200 Euro) Geldstrafe verhängt. Schon damals war klar, dass ein Strafverfahren vorbereitet wurde. Aber Jaschin erklärte in zahlreichen Interviews, dass er nirgendwo hingehen und sich verstecken werde. Dies war seine prinzipielle Position. Die Ermittlungen in dem „Fake“-Fall dauerten fast fünf Monate. Jaschin wurde am 12. Juli festgenommen, als er eine spezielle Haftanstalt verließ, in der er 15 Tage lang festgehalten worden war – angeblich wegen Ungehorsams gegenüber der Polizei. Am nächsten Tag kam er in Untersuchungshaft. Laut der konstruierten Anklage habe Jaschin in einem Stream auf YouTube, „indem er den Beginn sozial gefährlicher Folgen vorhersagte, falsche Informationen über die angeblichen Verbrechen, die in Butscha begangen wurden, verbreitet“. Laut Staatsanwaltschaft habe sich Jaschin gleichzeitig abschätzig über die derzeitige Regierung geäußert und angeblich gewusst, dass „die von ihm verbreiteten Falschinformationen“ das Interesse einer Vielzahl von Menschen wecken würden, da er eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens sei. Anfang November wurde Jaschins Fall vor dem Meschanski-Gericht in Moskau verhandelt. Laut den von der Staatsanwaltschaft verlesenen schriftlichen Materialien war das Verfahren nach dem Bericht eines Detektivs vom Zentrum E (einer Antiextremismuseinheit des Geheimdienstes FSB; d. Red.) eingeleitet worden. Ein Video Jaschins mit mehr als 1 Million Aufrufen war den Strafverfolgungsbeamten im Juli aufgefallen. Ein Ermittler meinte, darin Anzeichen eines Verbrechens zu erkennen, und ein Linguistikexperte kam zu dem Schluss, dass die Worte des Oppositionellen über die Ermordung von Ukrainern durch russische Truppen eindeutig Aussagen des Verteidigungsministeriums widersprochen hätten. In der Tat wurden der operative Mitarbeiter und der Sprachex perte seitens der Staatsanwaltschaft Kronzeugen vor Gericht. Jaschin selbst widersprach dem Vorwurf kategorisch und gab an, wegen seiner oppositionellen Aktivitäten verfolgt zu werden. Er erklärte, dass er sich bei der Schilderung der Ereignisse an die klassischen Standards des Journalismus halte und dem Publikum nicht nur sein eigenes Werturteil anbiete, sondern es auch mit unterschiedlichen Sichtweisen vertraut mache. Die Richterin Oksana Gorjunowa benötigte nur vier Sitzungen, um beide Seiten anzuhören und ein Urteil zu fällen. Sie verurteilte Jaschin zu acht Jahren und sechs Monaten Gefängnis. Gegen das Urteil hat die Verteidigung Berufung eingelegt. Die Künstlerin Alexandra Skotschilenko Vor Kurzem hat das Wasileostrowski-Gericht in Sankt Petersburg begonnen, den „Fake“-Fall der Künstlerin Alexandra Skotschilenko zu prüfen. Ihr wird vorgeworfen, öffentlich „wissentlich falsche Informationen aus politischem Hass“ verbreitet zu haben. Nachdem Preisschilder in dem Geschäft Perekrestok durch Aufkleber mit Informationen über die Aktionen der russischen Streitkräfte in der Ukraine ersetzt worden waren, wurde Skotschi lenko festgenommen und in ein Untersuchungsgefängnis gebracht. In der Haft verschlechterte sich der Gesundheitszustand der Künstlerin. Ihre Anwältin Jana Nepovinnowa sagte, dass die Künstlerin unmittelbar nach ihrer Verhaftung in eine Zelle für 18 Personen gebracht worden sei, in der Sko tschi lenko trotz einer Glutenunverträglichkeit keine spezielle Diät erhalten habe. Die In sas sin nen verboten der Künstlerin, den Kühlschrank selbst zu öffnen. „Sascha wurde ständig gesagt, dass sie schlecht rieche. Die Insassen zwangen sie, jeden Tag ihre gesamte Kleidung zu waschen, einschließlich dicker Pullover und eines warmen Bademantels. Sie braucht dafür einen halben Tag“, sagte Sonja Subbotina, Skotschilenkos Freundin. Später wurde die Künstlerin in eine Doppelzelle verlegt, wo sie mit warmen, glutenfreien Mahlzei07novaya gazeta europefreitag, 20. januar 2023 Journalistin Marina Owsjannikowa Foto: Alexander Shcherbak/TASS/imago Rechtsanwalt Dmitri Talantow Foto: Andrei Karew Politiker Ilja Jaschin Foto: SNA/imago Künstlerin Alexandra Skotschilenko Foto: Telegramkanal Free Sasha Skochilenko! Heizer Wladimir Rumjanzew Foto: SOTA-2 08 Seit Herbst übt der Geschäftsmann und Leiter des privaten Sicherheitsund Militärunternehmens Wagner (PMC), Jewgeni Prigoschin, aktiv und öffentlich Kritik an der Führung der russischen Armee. Einigen Berichten zufolge hat er sich persönlich beim Präsidenten über das Militär beschwert. Nach einer weitverbreiteten Version gelang es Prigoschin schließlich gemeinsam mit dem Präsidenten der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, den Befehlshaber der russischen Streitkräfte der Gruppe Zentrum, Generaloberst Alexander Lapin, von seinem Posten zu entfernen. Aber das wahrscheinliche Ziel des Tandems Prigoschin/Kadyrow könnten höhere Führungsposten sein: Waleri Gerassimow, Chef des Generalstabs des russischen Verteidigungsministeriums und seit Neuestem Oberbefehlshaber über die russischen Truppen im Krieg gegen die Ukraine, und Verteidigungsminister Sergej Schoigu. Die Chancen dafür sind allerdings gering. Trotz aller ostentativen Härte Prigoschins wird er als fester Partner und Mitstreiter kaum ernst genommen und niemand wird ihm erlauben, richtig durchzustarten. D ie Rivalität zwischen der Führung der Gruppe Wagner und der Armee ist seit Langem bekannt. Doch erst im vergangenen Herbst wurde der Konflikt öffentlich. Prigoschin sprach von der Notwendigkeit personeller Veränderungen im Verteidigungsministerium und schlug Methoden zur Umerziehung von inkompetenten Generälen vor: „All diese Arschlöcher – sie schicken die Soldaten barfuß mit Maschinengewehren an die Front.“ Und er erklärte unter anderem, dass „viele der sogenannten Kader nichts gelernt haben, außer mit den Absätzen zu klappern, Schmuck zu tragen und schöne Berichte zu schreiben“. Gleichzeitig lobte Prigoschin den Armeegeneral Sergej Surowikin, (er befehligte vom 8. Oktober bis zum 11. Januar die russischen Streitkräfte in der Ukraine; d. Red.). Einen würdigen Mann nannte er ihn. Dann tauchte die Hypothese auf, dass Surowikin ein Produkt von Prigoschin und Kadyrow sei. „Nach meinen Informationen sind die wahren Gründer der Wagner-Gruppe Generäle der russischen Spezialdienste“, sagt der Menschenrechtsaktivist Wladimir Osetschkin, Gründer des Projekts Gulagu.net, der Novaya Gazeta Europe. „Tatsächlich handelte es sich bei diesem Unternehmen ursprünglich um eine illegale Abteilung des GRU (Hauptdirektion des Hauptstabs des russischen Verteidigungsministeriums), die bei der 10. Brigade der Spezialkräfte in Molkino (Gebiet Rostow) in der Militäreinheit Nr. 51532 stationiert war. Daher kann der russische Präsident Wladimir Putin durchaus als Gründervater der Schattenorganisation bezeichnet werden. Prigoschin wurde dorthin als Aufseher beziehungsweise Vorsitzender geschickt, über den Zahlungen „schwarzer“ Gelder laufen, die im Rahmen verschiedener staatlicher Verträge aus dem russischen Haushalt stammen. Ein erheblicher Betrag an Bargeld wird für die Bezahlung der Söldner generiert. Offenbar ist Prigoschin sowohl Schatzmeister als auch Betrüger“, fügt Osetschkin hinzu. Osetschkin ist sich sicher, dass Putin sich seit 2014 endgültig als Diktator sieht und damals beschloss, ein geopolitisches Projekt für den militärischen Einmarsch in der Ukraine in die Tat umzusetzen. Die erforderlichen Ichtamnet-Truppen (ichtamnet ist ein neues russisches Wort für „nie dagewesen“), wie die Gruppen Wagner und Redut, wurden mit Mitteln aus dem russischen Haushalt gebildet und aus Beständen des Verteidigungsministeriums bewaffnet – aber in keinerlei Weise formell legalisiert. „Während der Syrienoperation fungierte Prigoschin als Putins Stellvertreter, der eng mit dem Kommandeur Sergej Surowikin zusammenarbeitete“, erzählt der Menschenrechtsaktivist. Damals waren Wagner und Redut Teil der russischen Streitkräfte. Genauso sind die Wagner-Leute heute ein fester Bestandteil der Besatzungstruppen in der Ukraine.“ Viele reguläre russische Militärs sind, gelinde gesagt, mit dem Vorgehen der privaten Sicherheitsund Militärunternehmen nicht zufrieden. Laut ihnen handeln die Söldner oft völlig autonom und sabotieren mitunter die Befehle der örtlichen Befehlshaber. Sie greifen zum Beispiel nicht an, wodurch die Flanke der vorrückenden russischen Truppen offen ist. Oder sie fallen im Gegenteil vor den regulären Einheiten in einen Ort ein, um ihren Vorgesetzten als Erste über einen erfolgreichen Angriff zu berichten. Zugleich ist die Kampfkraft der Wagner-Leute nach Ansicht der Verteidigungsoffiziere vor Ort nicht unbedingt hoch. Die Kleinstadt Bachmut konnte erst nach etwa sechs Monaten Krieg von regulären russischen Verbänden und WagnerKämpfern angegriffen werden. Dabei neiden die regulären Militärkader den „Musikern“ (so bezeichnen die Wagner-Leute sich selbst) alles – Uniformen, Waffen und vor allem die Gehälter. „Bisher sind die Potenziale der PMCs und der regulären Armee nicht zu vergleichen“, sagt Denis Korotkow der Novaya Gazeta Europe. Er ist Experte des Zentrums „Dossier“ (einem Projekt, das kriminelle Aktivitäten verschiedener Personen, die mit dem Kreml in Verbindung stehen, untersucht; d. Red.). „Allerdings verfügen die sogenannten Musiker inzwischen nicht nur über schweres Gerät, Artillerie und MLRS-Raketenwerfer, sondern auch über Flugzeuge. Aber es geht nicht nur um Flugzeuge und Piloten. Auch die Wartung von Kampffahrzeugen und deren Waffen ist komplex. In diesem Bereich sind die Prigoschin-Söldner auf die Infrastruktur des Verteidigungsministeriums angewiesen. Direkt an der Kontaktlinie machen die PMCs ungefähr ein Zehntel der Gesamtzahl der Kämpfenden aus. Unter den von den PMCs Rekrutierten herrscht eine wahnsinnige Rotation. Es handelt sich um eine Menge ehemaliger Häftlinge, ausgestattet mit Maschinengewehren, die innerhalb von zwei Wochen rasch ausgebildet werden: Das macht sie nicht unbedingt einsatzfähig für die Front“, fügt Korotkow hinzu. Er ist der Ansicht, dass es keine administrative Unterstellung der Wagner-Söldner unter das militärische Kommando vor Ort gibt. Im besten Fall seien sie Verbündete, aber nicht Untergeordnete. Surowikin selbst habe nicht einmal den Anführer eines Söldnerzuges ernennen oder entlassen können. Was passiere zum Beispiel, wenn die Truppen zum Angriff übergingen, aber die Söldner sie nicht unterstützten? Dürfte man sie wegen Befehlsverweigerung anklagen? Und an wen erginge dieser Befehl überhaupt? Es sei unsinnig, nach einer rechtlichen Grundlage zu suchen – die gebe es einfach nicht. Die PMCs agierten bewusst außerhalb des Rechtssystems der Russischen Föderation. „Der Großteil ehemaliger PMC-Kämpfer, die noch am Leben sind, circa 6.000 bis 7.000 Söldner, befindet sich inzwischen in der Zentralafrikanischen Republik, Mali und Syrien“, erklärt Osetschkin von Gulagu.net. „Nach unseren Informationen besteht die Wagner-Söldnertruppe, die heutzutage in der Ukraine kämpft, zu mehr als 80 Prozent aus Gefangenen. Die restlichen sind Ausbilder, die nach der Schulung zu Kommandanten einer Einheit oder Spezialisten in einem bestimmten Bereich geworden sind. Das Exekutionskommando zum Beispiel, die sogenannte Sondergruppe Med, widmet sich der Hinrichtung von Unerwünschten“, fügt er hinzu. Nach Angaben von Korotkow erhalten die „Musiker“ in der Regel ein beträchtliches Gehalt – etwa 250.000 Rubel (umgerechnet 3.333 Euro) pro Monat für einen einfachen Sturmsoldaten. Angehörige von Verstorbenen erhalten für den Verlust in unbürokratischer Weise Millionenbeträge (manche sprechen von 3 bis 5 Millionen Rubel). Die Verwundeten werden umgehend in Militärkrankenhäusern behandelt. Selbst amputierte Kämpfer versuchen, einen Platz in der Wagner-Struktur zu finden. Korotkow ist der Überzeugung, dass die Wagner-Truppe durch die Anzahl an Auszeichnungen bereits jede vergleichbar große Einheit des russischen Verteidigungsministeriums übertroffen hat. Medaillen und Orden für die „Musiker“ werden direkt vom Präsidialamt ausgeschrieben und verteilt. Zu Helden wurden mindestens sechs Wagner-Söldner ernannt. Jeder erfahrene Offizier, der Afrika und Syrien überstanden hat, besitzt in der Regel mehrere „Verdienstorden für das Vaterland“. Korotkow glaubt, dass die Sympathie für Prigoschin innerhalb der Armee nicht gerade wachse, wenn er es sich erlaube, abfällig über die russische militärische Führung zu reden. „In der Regel hassen alle Prigoschin heftig – vom Leutnant bis zum Oberst“, sagt der Experte. „Die Abscheu, die viele Offiziere ihm gegenüber empfinden, wird seit Jahren nicht mehr öffentlich gezeigt. Zudem hat das Militär Schwierigkeiten mit den in den PMCs angewandten Disziplinarmethoden, wie etwa Exekutionen im Schnellverfahren und Hinrichtungen mit einem Vorschlaghammer. Jewgeni Prigoschin, Chef der privaten Söldnertruppe Wagner, hat die Führung der russischen Armee off en herausgefordert. Werden dort bald weitere Köpfe rollen oder ist der Mann noch zu stoppen? Von Georgi Aleksandrow Offi zielle Eröff nung des „Wagner Centers“ am 4. November 2022, dem Tag der Nationalen Einheit, in Sankt Petersburg Foto: ap „Meiner Meinung nach kann dem Verteidigungsminister die Situation, die sich seit Beginn des Jahres 2010 entwickelt hat, nicht gefallen. Ein großer Teil des Militärbudgets geht seit Jahren und auf obersten Befehl an Prigoschin“, erklärt ein Experte des Dossier-Centers gegenüber Novaya Gazeta Europe. „Bis 2015 haben praktisch viele Wagner-Strukturen die entsprechenden Stellen der staatlichen Behörden ersetzt. Dazu gehörten unter anderem alle Aufträge für die Truppenverpflegung, der Bau und die Instandhaltung von Armeelagern und die Energieversorgung der Streitkräfte. Riesige Geldsummen sind am Oberkommando vorbeigegangen. Eine Reihe von Militärs war mit dieser Situation zufrieden, weil sie ihr Stück vom Kuchen bekamen. Der Hauptnutznießer war allerdings zweifellos Prigoschin. In diesen Sphären kann es keine Freundschaft geben, doch vorübergehende Allianzen sind möglich. Ein Beispiel ist Timur Iwanow (seit 2016 Vizeverteidigungsminister): Bei Amtsantritt war er ein entschiedener Gegner Prigoschins – jedoch habe er seine Meinung schnell geändert, sagt Korotkow. Laut Korotkow liegt dem Verteidigungsministerium sogar eine Reihe von Beschwerden gegen Prigoschins Gastronomieunternehmen Konkord – daher sein Spitzname „der Koch“ – und dessen Tochtergesellschaften vor. Diese seien öffentlich zugänglich. Obwohl die Aufsichtsbehörden immer wieder Verstöße gegen die Bedingungen der Lebensmittellagerung und -hygiene aufdecken, führte das jahrelang und bis dato lediglich zu lächerlichen Geldstrafen für zahlreiche Scheinun ternehmen. Hinzu kommt: Die Bauaufträge für Militärstand orte, die Prigoschins Firmen unter schwerwiegenden Verstößen gegen das Gesetz bekamen, wurden nicht fristgerecht erfüllt. Die gesamte Ausrüstung von Wagner befindet sich in der Bestandsliste der Einheiten des Verteidigungsministeriums. In den Unterlagen der Konkord-Gesellschaft werden auch keine Panzer oder Flugzeuge aufgelistet. Auch die Munition wird über das Militär vertrieben. „Prigoschins Lobbyfähigkeiten würde ich nicht überbewerten“, meint Korotkow. „Wenn es ihm nicht einmal gelingt, den Gouverneur von Sankt Petersburg, Alexander Beglow, zu stürzen, kann er auch keine Kommandeure absetzen und ernennen. Was wir bisher gesehen haben, war eine Hexenjagd durch Prigoschins eigene Medien. Bestimmt hat er gewissen Einfluss auf die Personalpolitik in der Armee, aber der ist nicht entscheidend.“ Der Konflikt zwischen der Armeeführung und der Führung der Wagner-Söldnertruppe sei historisch bedingt, so der Politikwissenschaftler Abbas Galljamow. „Ich würde es als ‚Hassliebe‘ bezeichnen“, sagt er der Novaya Gazeta Europe. „Das Oberkommando der Armee hasst Prigoschin. Putin, per se ein misstrauischer Mensch, hat beschlossen, auf Nummer sicher zu gehen und Sergej Schoigu ein wenig zur Seite zu schieben. So ist ein System von Kontrollen und Gegenkontrollen entstanden. Den Militärs kommt Prigoschin wie ein Spion vor, der einen direkten Kanal zum Vorgesetzten hat und jederzeit etwas Unangenehmes rauslassen kann.“ Laut Galljamow kann eine professionelle militärische Organisation wie Wagner, die Kriminelle in ihre Reihen aufnimmt, nicht von vornherein sympathisch sein. Prigoschin selbst spricht den Jargon der Verbrecher, die Sprache der Straße. Die Offiziere sind aufgrund ihres Wertesystems dem Staat verbunden und stehen eindeutig keiner derart abscheulichen Figur nahe, die nicht zögert, Methoden weit jenseits der Grenzen des Gesetzes anzuwenden. Gleichzeitig kämpfen die PMCs gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium, weil sie ohne die direkte Unterstützung des Militärs nicht in der Lage wären, dies zu tun. Schoigu, da ist sich Galljamow sicher, mag es nicht, dass ihm Bereiche seines Systems entzogen und der Wagner-Gruppe unterstellt werden – etwa die Verlagerung von schwerem Militärgerät, Artillerie und sogar die Luftstreitkräfte Schoigus Position wird von vielen offiziellen Beamten unterstützt. Aber wenn der Befehl kommt, unterstehen sie der operativen Kontrolle der PMCs. Zugleich macht sich Unzufriedenheit innerhalb der Armee breit. „Immer öfter bekommen sie zu hören, dass die Wagner-Leute besser als die offiziellen Einheiten des Verteidigungsministeriums kämpfen“, berichtet der Politologe. „So etwas verärgert natürlich Schoigu und Gerassimow. Ich kann mir gut vorstellen, dass das nicht so einfach ist. Schließlich wurden die kampffähigsten Einheiten der russischen Armee in der ersten Phase des Krieges durch eine äußerst mittelmäßige Führung geschwächt. Die Söldner tauchten erst später auf, als klar wurde, dass die ukrainischen Streitkräfte eine ernstzunehmende Kraft waren“, meint Galljamow. Ein klarer Imagegewinn für Prigoschin war sein öffentliches Bündnis mit Kadyrow. Doch weder Prigoschin noch Kadyrow machen den Eindruck von Menschen, die zu aufrichtigen guten Beziehungen fähig wären. Nach außen hin scheint es ein vorübergehendes Zweckbündnis zwischen zwei verhassten Kriegsbefürwortern zu sein: Sie haben eine gemeinsame Agenda und einen gemeinsamen Feind. Beide untergraben das staatliche System von innen heraus und streben nach mehr Eigenverantwortung. Im Moment sind sie Verbündete. Doch bald werden sie wahrscheinlich zu Rivalen, glaubt Abbas Galljamow, da sie beide um dieselbe Nische konkurrieren – Russlands härtester Macho zu sein. Gleichzeitig scheinen sie jeweils misstrauisch gegenüber dem anderen zu sein. „Bisher hatten Kadyrow und Prigoschin keinen Grund, sich gegenseitig anzugehen“, sagt Korotkow. „Das Schicksal von Prigoschin wird vom Ausgang des Kriegs abhängen“, ist Abbas Galljamow überzeugt. „Wenn das Verteidigungsministerium verliert, könnte Putin auf effektivere PMCs setzen. Wenn sich die Geschichte für Russland zum Guten wendet, kann man davon ausgehen, dass diese paramilitärisch bewaffneten Formationen – Machnowtschschina – in die offiziellen Streitkräfte integriert werden. Dann würde Prigoschin zum Generaloberst befördert und zum stellvertretenden Chef der Operationen des Generalstabs ernannt, der für die Koordinierung zwischen den Einheiten zuständig wäre.“ Allerdings sind die von der Novaya Gazeta Europe befragten Experten der festen Überzeugung, dass Prigoschin keine Chance habe, in der großen Politik Fuß zu fassen. Das dürfte auch ihm bald klar werden. Praktisch alle Eliten und die Mehrheit der Gesellschaft wollen heute Stabilität und ein Ende der Krise. Prigoschin würde die Lage nur eskalieren lassen. „Nicht mehr als zehn Prozent der verrücktesten Wähler unterstützen ihn. Und Kleinstkriminelle gehen nicht mal wählen!“, sagt Galljamow. „Kyjiw wird nicht in absehbarer Zeit von den Wagner-Leuten eingenommen. Und das braucht Prigoschin, um sich den Sieg zuzuschreiben. Unklar bleibt auch, ob Prigoschin effektiver als Putin sein kann, der im Kampf gegen die Außenwelt bereits alle natürlichen Ressourcen ausgeschöpft und das System zum Zusammenbruch gebracht hat. Wer braucht so jemanden als Präsidenten? Ich sehe auch keinen Grund für Putin, Prigoschin als seinen Nachfolger in Betracht zu ziehen.“ „Prigoschin ist bald tot“, glaubt Denis Korotkow. „Es gibt für ihn keine Möglichkeit, weiterzukommen. Jeder offizielle Posten bedeutet für ihn das Ende der Geschichte. Schließlich liegt sein Vorteil gegenüber den anderen in seiner völligen Ungebundenheit. Offiziell gibt es keine private Militärfirma. Und er selbst sagt, dass eine Legalisierung von PMCs nicht notwendig ist.“ Sollte eine internationale Untersuchung der terroristischen Aktivitäten der Wagner-Leute eingeleitet werden, „hört die PMC einfach auf zu existieren“, ist sich Osetschkin sicher. Der Countdown läuft. 09freitag, 20. januar 2023 Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin bei der Beerdigung eines Kämpfers seiner Truppe bei Sankt Petersburg Foto: ap/dpa Nach der Ankündigung der Mobilmachung im September 2022 verließen Hunderttausende Männer Russland, die von einer Einberufung zum sofortigen Dienstantritt oder einer Entsendung an die Front betroffen gewesen wären. Einige beantragten politisches Asyl in Deutschland – nachdem sich in russischen Medien die Auskunft verbreitet hatte, dass die deutschen Behörden denjenigen Schutz gewähre, die nicht gegen die Ukraine kämpfen wollen. Ende Dezember brachte die Deutsche Welle einen Beitrag über fünf Russen, die vor der Mobilmachung gef lohen und angeblich aus Deutschland abgeschoben worden waren. Darüber, ob das wirklich so gewesen ist, und was zukünftig mit russischen Flüchtlingen in Deutschland passiert, hat die „Novaya Gazeta“ mit dem Koordinator der Freiwilligenorganisation inTransit (aus Sicherheitsgründen soll sein Name hier nicht genannt werden; d. Redaktion) gesprochen. Ihre Mitarbeitenden helfen seit März 2022 russischen Kriegsgegnern bei der Ausreise und treten als Interessenvertreter gegenüber den bundesdeutschen Asylbehörden auf. Im September verbreitete sich in russischen Medien Aussagen deutscher Politiker darüber, dass Deutschland bereit sei, denjenigen Russen Asyl zu gewähren, die vor der Mobilmachung fliehen. Inwieweit entspricht das den Tatsachen? Wie viele Menschen kamen vor diesem Hintergrund? Viele dieser Aussagen wurden von der Presse nicht richtig interpretiert. Alle Organisationen, die Geflüchteten helfen und zum Thema politisches Asyl beraten, haben damals Richtigstellungen veröffentlicht. Tatsächlich gibt es in Deutschland noch keine Änderung beim Asylverfahren. Liest man die Aussagen der Politiker aufmerksam, merkt man schnell, dass sie ausschließlich Deserteure betreffen. Also Leute, die schon in der Ukraine gekämpft haben oder direkt aus ihrer Einheit geflohen sind. Wenn ein Strafverfahren gegen sie eingeleitet wird, können sie sich in ihrem eigenen Land nicht mehr vor Verfolgung verstecken. Aber auch früher schon konnten Deserteure politisches Asyl beantragen, unabhängig von ihrem Herkunftsland. Nach Ankündigung der Mobilmachung gingen sehr viele Menschen nach Deutschland, um dort Asyl zu beantragen. Die meisten, bevor sie überhaupt eine Vorladung bekommen hatten. Mit Vorladung kamen deutlich weniger. Deserteure waren fast gar keine darunter, vielleicht ein Dutzend. Und viele von denen, die jetzt in Flüchtlingslagern leben, müssen gar kein Asyl beantragen, sondern können ihren Aufenthalt auf andere Weise legalisieren, mit deutlich weniger Aufwand, zum Beispiel als IT-Spezialisten oder Freiberufler. Die meisten Verfahren derjenigen, die politisches Asyl beantragt haben, befinden sich noch immer in der Schwebe und die Betroffenen haben sich noch nicht einmal an Menschenrechtsorganisationen gewandt. Gleichzeitig schlugen deutsche Politiker vor, die Mobilmachung als weiteren Grund für den Erhalt von politischem Asyl anzusehen. Wenn also jemand politisch verfolgt wird, und wenn er außerdem eine Vorladung bekommen hat oder das Risiko der Mobilmachung besteht, kann das theoretisch die Chancen auf eine Anerkennung erhöhen. Aber kein deutscher Politiker hat gesagt: „Lasst uns alle als politische Flüchtlinge anerkennen, die theoretisch unter diese Mobilmachung fallen könnten.“ Das beträfe 70 Prozent der männlichen Bevölkerung Russlands, plus diejenigen Frauen mit Berufen, die ebenfalls von der Mobilisierung betroffen sind. Aus Sicht der deutschen Behörden, die diese Asylanträge bearbeiten, ist eine Vorladung zum Wehramt nichts, wovor man sich nicht auch in seinem eigenen Land verstecken könnte. Man kann den Ort, an dem man gemeldet ist, verlassen und woanders wohnen, sich als Zivildienstleistender melden oder einfach nicht ins Wehramt gehen. Was wissen Sie über diejenigen, die „vor der Mobilmachung geflohen sind“ und jetzt angeblich aus Deutschland abgeschoben wurden? Ist das überhaupt möglich? Fangen wir erst mal damit an, dass es in Deutschland verschiedene Möglichkeiten gibt, Asyl zu beantragen. Nicht alle garantieren einem aber, dass man auch im Land bleiben kann. Man kann aus einem visafreien Land per Flugzeug kommen und dann beim Umsteigen in Deutschland am Flughafen Asyl beantragen. Das ging früher, wenn man kein Schengenvisum hatte. Aber seit Beginn der Mobilmachung funktioniert das aufgrund des hohen Zustroms von Russen immer weniger. Russische Staatsbürger, die jetzt versuchen, aus einem visafreien Land mit Umstieg in einem EU-Land in ein anderes visafreies Land zu fliegen, lässt man in Kasachstan, der Türkei oder Serbien oft gar nicht mehr an Bord des Flugzeugs. Das Geld für das Flugticket wird ihnen dann erstattet. Die zweite Möglichkeit ist, mit einem Schengenvisum in die EU einzureisen und um Asyl zu bitten. Um aber wirklich genau in Deutschland Asyl beantragen zu können, ist es sehr wichtig, auch ein deutsches Schengenvisum zu haben. Schwierig dabei ist, dass die seit März 2022 nur noch selten erteilt werden. Wenn man in Deutschland mit einem Visum eines anderen Landes Asyl beantragt, greift die sogenannte Dublinverordnung, die die Zuständigkeit der EU-Länder für Asylanträge regelt. Sie wurde erlassen, damit nicht ein und dieselben Menschen in mehreren Ländern gleichzeitig Asyl beantragen. Für den Antragsteller ist also nur ein Land zuständig – das, das ihm das Einreisevisum erteilt hat, oder das, in dem er zuerst die EU betreten hat. Wenn Menschen in Deutschland Asyl beantragen, und sie zu Beispiel ein französisches Schengenvisum haben, ein spanisches, polnisches, finnisches oder aus irgendeinem anderen Land, werden sie meist in dieses Land zurückgeschickt. Und das ist dann keine Abschiebung, weil der Antragsteller auf EU-Gebiet bleibt. Dieses Verfahren existiert schon seit vielen Jahren. Und genau das ist mit einem Teil der Russen passiert, die nach dem Beginn der Mobilisierungskampagne in der Bundesrepublik Asyl mit Visa anderer Länder beantragt hatten. Es gab keine Sonderregelungen für Russen, die vor der Mobilmachung geflohen waren. Generell kann man sagen, dass es sich nicht lohnt, sich vor einer Abschiebung nach Russland aus einem EU-Staat zu fürchten, weil das praktisch nicht passiert. Sind Menschenrechtsaktivisten mit deutschen Behörden im Gespräch darüber, wie man die Chancen für Menschen, die Russland im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine verlassen wollen, vergrößern kann? Natürlich. Alle Hilfsinitiativen und alle Menschenrechtsorganisationen versuchen, sich auf verschiedenen Ebenen für die Interessen dieser Menschen einzusetzen. Alle haben eigene Kontakte. Die Zusammenarbeit aller Organisationen bringt auch Ergebnisse. Hilfe für Asylbewerber leisten deutsche Menschenrechtsorganisationen, die schon lange auf diesem Gebiet tätig sind. Zurzeit gibt es keine russischen Initiativen oder Organisation, die sich ausschließlich mit politischem Asyl für Russen in Deutschland beschäftigen. Meistens geht es bei ihnen um eine Interessenvertretung zu verschiedenen Themen – Asyl, humanitäre Visa, weil beides mit dem Schutz von Verfolgten zusammenhängt. Neben unserem Engagement für humanitäre Visa sprechen wir mit Vertretern des Bundestags darüber, dass es für Deserteure sehr schwierig ist, überhaupt nach Deutschland zu kommen. Denn sie haben meistens gar keine Reisepässe. Viele stehen auf internationalen Fahndungslisten, sie brauchen Hilfe. Es ist absolut notwendig, die Menschen aus den Ländern herauszuholen, in denen ihnen wirklich eine Abschiebung nach Russland drohen kann. Wie reagieren die deutschen Behörden auf diese Informationen? Verschiedene Politiker und Vertreter verschiedener Parteien haben sich die Probleme angehört und versuchen, über Lösungsmöglichkeiten nachzudenken. Aber es ist wichtig zu wissen, dass Deutschland nicht innerhalb weniger Tage oder Wochen Gesetze oder Asylverfahren ändern kann. In diesem Land brauchen bestimmte Prozesse viel Zeit, weil es notwendig ist, dass alle zustimmen, dass alle Aspekte des Problems beleuchtet werden. Deshalb gibt es hier keine Lobbyarbeit mit schnellem Ergebnis. Und dass Deutschland alle aufnimmt, die der Mobilmachung entkommen sind, kann keine halbwegs klar denkende Menschenrechtsorganisation fordern. Das ist unmöglich, weil wir hier von mehreren Hunderttausend Menschen sprechen. Das deutsche Sozialsystem hat schon mit der Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten eine große Last auf sich genommen. Die Übergangslager sind voll, die sozialen Ressourcen in den Bundesländern sind nicht unendlich. Viele ukrainische Geflüchtete fahren in die Ukraine zurück, weil sie in Deutschland keine adäquate Unterkunft und Unterstützung finden. Wir verstehen sehr gut, dass es in dieser Situation merkwürdig wäre, anzunehmen, dass Deutschland bereit wäre, noch Hunderttausende weitere Menschen aus Russland aufzunehmen. Und das nur auf Grundlage dessen, dass diese Menschen theoretisch unter die Mobilmachung fallen oder eine Vorladung bekommen haben. Was raten Sie im Hinblick auf eine weitere Welle der Mobilmachung? Zuallererst sollte man sich einen Reisepass besorgen, ein beliebiges Schengenvisum (Spanien, Frankreich, Griechenland), sich einen Plan machen und Geld zusammenkratzen, weil es keine einzige Organisation gibt, die vor der Mobilmachung Flüchtenden finanziell über einen mehrmonatigen Zeitraum helfen könnte. Man kann Russland verlassen, versuchen, in einem visafreien Land Fuß zu fassen, und aufmerksam alle existierenden Visaarten prüfen – die verschiedenen nationalen Visa der Bundesrepublik Deutschland und anderer europäischer Länder. Wenn man einen gefragten Beruf hat, Berufserfahrung oder einen Studienwunsch, ist das besser, als Asyl zu beantragen. Nur wegen der Mobilmachung ein Asylverfahren zu durchlaufen, kann ein Jahr lang dauern – ein Jahr voller starker psychischer Belastung –, an dessen Ende dann vielleicht die Ablehnung steht. 10 Interview Alina Danilina Keine Angst vor Abschiebung Seit dem Beginn des Ukrainekriegs haben Hunderttausende russische Männer in der EU Zufl ucht gesucht. Welche Möglichkeiten gibt es, legal nach Deutschland zu kommen? Kann Mobilmachung ein Asylgrund sein? Illustration: Alisa Krasnikova 11freitag, 20. januar 2023 R usslands Einmarsch in die Ukraine hat das stärkste Wachstum des globalen militärisch-industriellen Komplexes seit 20 Jahren ausgelöst. Alle Nachbarstaaten Russlands – von Norwegen bis zur Mongolei – bauen ihre militärischen Kapazitäten aus. Finnland und Schweden treten der Nato bei, Lettland führt die Wehrpflicht wieder ein, und Georgien erhöht die Verteidigungsausgaben, um „aggressive Kräfte“ abzuschrecken. Es wird erwartet, dass der Militärhaushalt des Planeten im Jahr 2023 einen Rekordwert erreicht. Und es wird nicht dabei bleiben. Die Abteilung für Datenjournalismus der Novaya Gazeta hat untersucht, wie sich das neue Wettrüsten entwickelt. Bereits 2021 haben die weltweiten Verteidigungsausgaben 2 Billionen Dollar erreicht (vollständige Zahlen für 2022 sind noch nicht öffentlich zugänglich) –, sechsmal mehr als die Summen, die Regierungen für die Bekämpfung des Klimawandels ausgaben. Allein in den vergangenen zehn Jahren ist das Militärbudget nach Angaben des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstituts (Sipri) weltweit real um 9 Prozent gestiegen. Die Hälfte der Ausgaben im Jahr 2021 entfallen auf nur zwei Länder, nämlich die Vereinigten Staaten (USA) mit 800 Milliarden Dollar und China mit 265 Milliarden Dollar. Zudem investierte China zu Beginn des Jahrhunderts nur 2 Prozent des weltweiten Militärbudgets in die Verteidigung; 2021 gab Peking dafür 14 Prozent aus. In den kommenden fünf Jahren will China seine Verteidigungsausgaben jedes Jahr um 7 Prozent erhöhen, was mindestens doppelt so hoch ist wie die Wachstumsrate der Finanzierung des militärisch-industriellen Komplexes in den USA. Die ganze Welt befand sich im Jahr 2022 in einem Wettrüsten. Der Krieg in Europa hat zu nie dagewesenen Ausgaben für Waffen und zu einer Aufstockung der Armeen geführt – insbesondere in den an Russland angrenzenden Ländern. In den kommenden Jahren wird die weltweite Verteidigungsindustrie voraussichtlich neue Rekorde erreichen: Das Budget des Pentagons wird bis 2023 um 10 Prozent steigen, und die Verteidigungsausgaben in Europa werden sich bis 2026 um das Anderthalbfache verdoppeln. Dies wird zwangsläufig zu höheren Steuern oder geringeren Ausgaben für andere staatliche Programme führen: „Jeder Euro, der für die Verteidigung ausgegeben wird, ist ein Euro, der nicht in Gesundheit, Wohnen, Renten und Bildung investiert wird“, sagt Alexandra Marksteiner, Militärexpertin am Stockholmer Friedensforschungsinstitut. Am meisten Angst haben die Nachbarstaaten Fünfunddreißig der 40 Länder, auf die mehr als 60 Prozent der weltweiten Militärausgaben entfallen, haben ihren Verteidigungshaushalt im Jahr 2022 erhöht. Kasachstan gehört zu den Spitzenreitern im Rüstungsbereich: Die Verteidigungsausgaben des Landes stiegen um 75 Prozent, und im Juli veröffentlichte das Wall Street Journal einen Artikel über die Pläne der Regierung, die Armee zu reformieren und die Beziehungen zu den USA, China und der Türkei angesichts des Kriegs in der Ukraine zu intensivieren. Im Jahr 2023 wird sich das Anwachsen des militärisch-industriellen Komplexes beschleunigen. An der Spitze der geplanten militärischen Aufrüstung steht Polen, dessen Verteidigungsausgaben sich von 13 auf 31 Milliarden Dollar fast verdreifachen werden. „Die beste Strategie ist es, den Feind mit der Stärke der eigenen Armee und durch die Zusammenarbeit mit anderen abzuschrecken“, sagte Polens Premierminister Mateusz Morawiecki bei einer Militärübung im November 2022. Im Jahr 2023 werden die Mittel für das polnische Verteidigungsministerium höher sein als die Militärbudgets der Ukraine, der Türkei und fast aller europäischen Länder zusammen. Im vergangenen November landeten zwei Raketen auf polnischem Gebiet nahe der ukrainischen Grenze. Zwei Wochen später traf ein weiteres militärisches Geschoss die Republik Moldau. Wie Kasachstan plant die Republik Moldau, ihr Militärbudget bis 2023 um 75 Prozent zu erhöhen. „Wir müssen den Rüstungssektor ausbauen, einschließlich der Luftverteidigung, oder uns den verschiedenen Verbänden anschließen, die auf EU-Ebene bereits existieren“, sagte der moldauische Verteidigungsminister Anatolie Nosatîi auf dem moldauisch-europäischen Integrationsforum. Das dritte führende Land in Bezug auf das Wachstum der Verteidigungsindustrie ist Armenien. Vor dem Hintergrund des Konflikts mit Aserbaidschan beabsichtigen die Behörden, die Verteidigungsausgaben um das Anderthalbfache zu erhöhen. Nach den jüngsten Grenzstreitigkeiten beklagten sich Beamte in der Hauptstadt Jerewan über den Mangel an modernen Waffen in der armenischen Armee. Ministerpräsident Nikol Paschinjan erklärte, Russland habe keine Waffen geliefert und die Kontrolle über den Latschinkorridor, der die Republik Bergkarabach mit Armenien verbindet, verloren. Im Wettrüsten ist die Türkei neuer Spitzenreiter. Im vergangenen Jahr hat die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan die Mittel für das Militär um 30 Prozent erhöht und plant für 2023 eine Erhöhung um weitere 50 Prozent. „Infolge der zunehmenden Bedrohungen in der Welt und in unserer Nachbarschaft erhöhen wir unseren Verteidigungshaushalt auf ein recht hohes Niveau von 469 Milliarden Lira (25 Milliarden Dollar)“, sagte der türkische Präsident im Oktober 2022. Währenddessen forderte der türkische Verteidigungsminister Griechenland und Zypern auf, von weiteren Waffenkäufen abzusehen, um die Situation nicht „in eine Sackgasse zu lavieren“. „China und die Türkei haben sich bereits vor 20 Jahren bewaffnet und haben nun mit einer neuen Aufrüstungsrunde begonnen, um auf modernere Systeme umzusteigen“, so der Militäranalyst Pavel Luzin. „China kann dafür große Summen ausgeben, denn das Land hat es geschafft, eine gute Industrie im Lande aufzubauen. Die Nachbarn fühlen sich bedroht und beginnen ebenfalls, in die Verteidigungsindustrie zu investieren.“ Wiederbelebung der Nato Die weltweite Rüstungsindustrie wuchs bis Ende der Nullerjahre stetig. Im Jahr 2010 froren dann die großen Volkswirtschaften, insbesondere die USA und das Vereinigte Königreich, die Aufstockung ihres Militärhaushalts ein. Nach der russischen Annexion der Krim (2014) wurden die Investitionen wieder aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt versammelte sich der Nato-Block zu einem Gipfel in Wales, um über „Russlands Vorgehen gegen die Ukraine zu diskutieren, das die Grundprinzipien eines geeinten, freien und friedlichen Europas infrage stellt“. Auf dem Treffen wurde beschlossen, „den rückläufigen Trend bei den Verteidigungshaushalten umzudrehen“. Die Bündnispartner verpflichteten sich, bis 2024 mindestens 2 Prozent des BIP für die Verteidigung ihrer Länder auszugeben. Im Jahr 2014 erfüllten nur die USA, das Vereinigte Königreich und Griechenland diese Vereinbarung. Bis 2022 sind die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, außerdem Polen, die Slowakei und Kroatien hinzukommen. Die Türkei will die 2 Prozent bis 2024 erreichen. Allerdings bleibt es dann immer noch bei der Hälfte des 30 Mitglieder umfassenden Bündnisses. Am wenigsten geben die westeuropäischen Länder Luxemburg, Spanien und Belgien für die Verteidigung aus, während an der Grenze zu Russland die Nato-Vorgaben bereits von allen baltischen Staaten und Polen überschritten wurden. „Nicht alle Mitglieder des Bündnisses werden in der Lage sein, die 2 Prozent zu erreichen“, sagt der Militärexperte Pavel Luzin. „Aber die wichtigsten Länder haben es entweder schon getan oder werden es in den nächsten Jahren tun.“ Am 5. Juli 2022 unterzeichneten die Nato-Mitgliedstaaten die Beitrittsprotokolle für Finnland und Schweden zum Nordatlantikrat. Beide Länder können dem Bündnis beitreten, sobald alle Bündnismitglieder die Protokolle ratifiziert haben – von den 30 Staaten haben nur die Türkei und Ungarn dies noch nicht getan. „De facto sind Schweden und Finnland bereits Mitglieder der Allianz“, sagt Luzin. „De jure werden sie es sein, auch wenn sich die Türkei weiterhin gegen die Idee sträubt, weil Russland für diese Länder eine direkte Bedrohung darstellt und die Nato eine Garantie für die Stärkung ihrer Sicherheit ist.“ Schweden hat sich seinerseits verpflichtet, die Verteidigungsausgaben auf 2 Prozent des BIP zu erhöhen, wie es das Bündnis seit 2014 verlangt. Finnland hat diesen Standard bereits 2021 erreicht. Sechszehn weitere Länder haben sich verpflichtet, die Anforderungen des Bündnisses bis 2024 zu erfüllen. Die beste Verteidigung ist, der Ukraine zu helfen Litauen hat für 2023 einen Rekordmilitärhaushalt genehmigt – 2,5 Prozent des BIP des Landes – und Vilnius ist bereit, ihn bei Bedarf auf 3 Prozent zu erhöhen. Nur Griechenland und die Vereinigten Staaten geben unter den NatoStaaten mehr für die Verteidigung aus. Nach Ansicht des litauischen Verteidigungsministers Arvydas Anušauskas sei dies notwendig, um der Ukraine weiterhin helfen zu können. In den ersten 10 Monaten des Krieges erreichte die militärische Unterstützung für Kyjiw 40 Milliarden Dollar (davon ausgenommen sind die humanitäre und finanzielle Hilfe, die das Land parallel bekommt). Der wichtigste Geldgeber sind die Vereinigten Staaten: Das Pentagon ist für 60 Prozent der an die ukrainischen Streitkräfte (AFU) überwiesenen Mittel verantwortlich. Für die US-Wirtschaft sind diese Ausgaben jedoch weitaus weniger bedeutend als für europäische Länder: So stellten die USA beispielsweise 3 Prozent des Militärhaushalts und 0,001 Prozent des BIP für die Unterstützung der Ukraine bereit, während Estland und Lettland jeweils 40 Prozent der nationalen Verteidigungsausgaben an Kyjiw überwiesen. Wie der estnische Verteidigungsminister Jüri Luik erklärt, „verringern die heutigen Entscheidungen zur Unterstützung der Ukraine die Chancen Russlands, sich in der baltischen Region irrational zu verhalten“. Das bedeutet, dass „der Sieg Kyjiws in diesem Krieg auch die Sicherheit Estlands erhöhen wird“. Im neuen Jahr wollen Europa und die Vereinigten Staaten ihre militärische Unterstützung für die Ukraine nicht reduzieren. Der britische Premierminister Rishi Sunak hat für dieses Jahr sogar noch mehr als die 2,8 Milliarden Dollar zugesagt, die er 2022 an die AFU überwiesen hat. Sunak fordert die nordeuropäischen Länder auf, dasselbe zu tun: „Wir wissen, dass Ihre Sicherheit unsere Sicherheit ist. Wir werden die Ukraine weiterhin unterstützen.“ Der Kreml hat mit seinem Angriff auf das Nachbarland weltweit einen neuen Rüstungswettlauf entfesselt: Sogar Moskaus „Verbündete“ sind verunsichert, wollen sich gegen Russland wappnen und erhöhen deutlich ihre Rüstungsausgaben Von Daria Talanowa Das weltweite Verteidigungsbudget hat sich seit dem Jahr 2000 verdoppelt Verteidigungsausgaben 2000–2021 in Europa, Nahost, USA und Kanada in billionen US-Dollar (1bn=1000 mrd), nicht inflationsbereinigt $ 2bn 1.8bn 1.6bn 1.4bn 1.2bn 1bn 200020022004 2006 2008201020122014 2016 201820202022 Quelle: Stockholm International Peace Research Institute Unsere Berechnungen Für die Analyse der weltweiten Verteidigungsausgaben wurden Daten des Stockholm International Peace Research Institute (Sipri) verwendet, die den Zeitraum von 1949 bis 2021 abdecken. Zur Schätzung der Verteidigungsausgaben im Jahr 2022 und der Pläne für 2023 haben wir Stichproben auf 40 Länder (Europa, USA, Kanada, Zentralasien, Südkaukasus, Japan, Mongolei, Türkei) beschränkt und Daten der Nato sowie öffentlich zugängliche Quellen herangezogen. Um die Größe der Armeen einzuschätzen, haben wir die Anzahl der Truppen in Europa, Asien, den USA und Kanada aus den Military Balance Reports für 2018 und 2022 miteinander verglichen. Daten zum Umfang der militärischen Unterstützung der Ukraine haben wir Berechnungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft entnommen. 12 I ch habe unsere Stadt schon in der unterschiedlichsten Verfassung gesehen: fröhlich, traurig, eingeschüchtert, erzürnt, protestierend, resigniert. Gegenwärtig erscheint sie mir zähflüssig und klebrig: Anscheinend ist hier alles möglich – und gleichzeitig nichts. Am Abend des 24. November 2022 war ich im Otkrytoje Prostranstwo (Open Space) bei einem Lyrikabend. Das Otkrytoje ist eine zivilgesellschaftliche Einrichtung, eine Mischung aus Co-Working-Space, Diskussionsraum, ein Ort für Ausstellungen, Filmvorführungen, Selbsthilfegruppen und ähnliche Aktivitäten. Mit der Veranstaltung wollte man Anwaltskosten für die „Tjumener Strafsache“ vom September 2022 sammeln, von der es heißt, sie sei „der zweite Netzwerkfall“. Beide Male ging es um Folter von Gefangenen aus dem anarchistisch-antifaschistischen Spektrum. Neben Gedichten gab es einen Büchertisch und veganes Essen. Um kurz vor halb acht drangen mehr als zwanzig mit Sturmhauben maskierte Männer in den Raum ein, mit Schlagstöcken ausgestattet, in schwarzen Uniformen ohne Abzeichen. Zuerst schmissen sie wahllos alle Tische um. Frauen und Mädchen mussten sich mit dem Gesicht zur Wand aufstellen, Jungen und Männer auf den Boden legen, Gesicht nach unten: „Hände hinter den Kopf, nicht umdrehen, nicht sprechen!“ Schwer zu sagen, wie viele Stunden wir da so gelegen haben, aber die Uniformierten schikanierten uns verbal und physisch, traten uns mit Stiefeln, ich schätze mal ungefähr vier Stunden lang. Dann folgte der Gesinnungscheck: Personen in Zivil, die an Mitarbeiter des Zentrums E (Zentrum für Extremismusbekämpfung; Sondereinheit der Polizei, auf Überwachung und Verfolgung von Oppositionellen spezialisiert; d. Red.) erinnerten, verhörten alle ohne Protokoll. Anschließend wurden alle HandyGerätenummern (IMEI) notiert, alle Anwesenden fotografiert und dann aufs Revier gebracht. Auch dort gab es keine Protokolle, die Festgenommenen gaben schriftliche Erklärungen ab und wurden zwischen drei und vier Uhr morgens entlassen. In Moskau war es eisig kalt. Mich schauderte es allein bei dem Gedanken daran, zur Nachtbusstation zu laufen. Aber die Mädchen riefen ein Taxi. „Und, hast du den Eindruck, dass du gerade einen Terroranschlag überstanden hast?“, fragte eine. Damals habe ich nur mit den Schultern gezuckt, aber heute denke ich, dass es wirklich so etwas in der Art war: eine nicht näher bestimmbare bewaffnete Gruppe von Personen, die ihre Gesichter und ihre Identitäten verbargen, überfielen eine völlig friedliche Zusammenkunft, bei der junge Poeten Gedichte lasen. Sie malträtierten und bedrohten uns, stundenlang wussten wir nicht, wann wir wieder freikommen würden – heute, morgen, in zehn Tagen oder in zehn Jahren. Ganz bewusst werden die Einwohner Moskaus schon seit Langem eingeschüchtert und terrorisiert: durch neue Gesetze, vom Präsidenten unterzeichnete Dekrete, durch die brutale Auflösung von Demos und Mahnwachen, demonstrative Festnahme mithilfe von Aufnahmen öffentlicher Überwachungskameras und Razzien im Zuge der sogenannten Teilmobilisierung, deren Ende nicht absehbar ist. Was hält uns hier eigentlich noch? Warum haben wir nicht rebelliert? Warum sind wir nicht wenigstens einfach gegangen? Ich erinnere mich an den Film „Sie küssten und sie schlugen ihn“ von François Truffaut: Es geht um 13bis 14-jährige Jungen, deren Eltern – Alkoholiker oder einfach Dummköpfe – kein Interesse an ihnen haben. Sie lernen fast nichts bei ihren sadistischen Lehrern, schwänzen die Schule und streunen durch die Stadt, klauen und finden sich schließlich in einer Einrichtung für schwer erziehbare Jugendliche hinter Stacheldraht wieder. Diejenigen, die abhauen, werden gewaltsam zurückgebracht. Am Ende des Films gelingt dem jungen Protagonisten die Flucht ans Meer. Wir alle hier in Moskau sind jetzt wie diese „schwer erziehbaren Jugendlichen“ aus dem Film: Wir müssen Hohn und Spott des dummen und grausamen „Systems“ ertragen, die Gleichgültigkeit und die offene Feindseligkeit von Eltern und nahen Angehörigen, und wir verstehen alle nicht, wie es so weit kommen konnte, dass sich unser Leben so entwickelt hat, wo wir doch einfach nur Lust hatten, durch eine Stadt voller Verlockungen zu streifen – und vielleicht manchmal einen Ausflug ans Meer zu machen. Aber die Wahl des Meeres ist jetzt begrenzt auf Murmansk, Kaliningrad oder Sotschi. Über Wladiwostok will ich gar nicht sprechen: Wer von uns hat schon Geld, um bis dorthin zu kommen? Schon für Sotschi oder Kaliningrad reicht es bei uns nicht. Und deshalb verbringen wir den „geschwänzten Unterricht“ nur in dem Gebiet zwischen Altufewo im Norden und Domodjedowo im Süden (Endstationen der Moskauer Metro; d. Red.). Na ja, und manchmal gehen wir auch zu Lyrikabenden mit veganem Essen. Im Frühling sind wir nicht ins Ausland geflohen, weil wir keinen Reisepass hatten, kein Visum und kein Geld. Und wir hatten noch nicht begriffen, warum ausgerechnet wir die Stadt verlassen sollten, die wir doch hier geboren wurden. Oder hergekommen sind, vielleicht erst kürzlich, aber doch freiwillig, auf der Suche nach Poesie, Philosophie, Sinn, Freude und Freiheit, und ja, vielleicht auch nach dem ein oder anderen leicht verdienten Rubel. Warum also sollten ausgerechnet wir weggehen und nicht die, die so stolz sind auf ihre Uniformen, mit Erkennungsmarken oder ohne, und deshalb die anderen Menschen um sie herum verhöhnen? Im Sommer schien es uns, als ob all das, weswegen im Frühling einige unserer Bekannten gegangen waren, bald zu Ende ginge. So sagten es uns diejenigen, die sich weit weg niedergelassen hatten und über wichtige Informationsquellen verfügten. Wir glaubten den alten Bekannten, hörten aus anderen Ländern mahnende Reden über die Notwendigkeit des „passiven Widerstands“ und warteten auf den „Tag X“, an dem wir uns alle erheben oder sich alles von alleine regeln würde. Aus klugen YouTube-Videos wissen wir, dass Revolutionen und Katastrophen in Russland schon immer unvorhersehbar waren, wobei diejenigen profitieren, die sich als Erste darauf einlassen. Wir blieben also und hofften heimlich, dass dieses Mal vielleicht Gott als Erster zur Stelle wäre oder Fortuna uns beistünde. Als im Herbst die unbefristete Teilmobilisierung verkündet wurde, verließen schließlich viele unserer Bekannten das Land, aber viele blieben eben auch: der Freunde und Freundinnen wegen. Und es gab ja auch noch die Poesie, die Philosophie, den Sinn, die Freude und den einen oder anderen Rubel. Ja, man musste in den sozialen Medien und den Messengerdiensten beobachten, wo gerade Vorladungen verschickt wurden, man musste den Wohnort wechseln, die schlechte Gewohnheit ablegen, auswärts zu essen oder Metro zu fahren, wo die Zahl der Überwachungskameras bald die der Fahrgäste übersteigt. Andererseits hatte die Zurückstellung von der Wehrpflicht für Studierende und Auszubildende weiterhin Bestand, die Freundin der Mutter bot Unterschlupf irgendwo auf dem Land an. Und die eigene Freundin hielt gar ein ausgeklügeltes Versteck bereit, direkt auf dem Gebiet der goldköpfigen weißen Stadt, des Hafens der fünf Meere (historische Bezeichnung für Moskau; Anm. d. Red.) Und wieder sind wir geblieben. Aber diese Liebe zur Poesie und Philosophie, zur Geschichte des Heimatlandes, die zieht uns hin zu Treffen, Lesungen, Diskussionen – all das gibt es noch in unserer Stadt. Mit einer dieser Veranstaltungen beginnt meine kleine Erzählung. Man kann schließlich nicht behaupten, dass diese Leute in schwarzen Uniformen, die große Ähnlichkeit mit Terroristen aufweisen, überall auftauchen. Nehmen wir mal an, wir hätten im November einfach Pech gehabt. Nehmen wir außerdem an, dass ich Ihnen nicht alles sage, was ich weiß, was ich tue, was wir alle tun, wir Moskowiter und Moskowiterinnen des Jahres 2022. Nehmen wir an, dass es unser „nichtmilitärisches Geheimnis“ ist. Dass einer von uns gerade ein experimentelles Perpetuum mobile des Optimismus perfektioniert. Nehmen wir an, dass wir nicht alle Karten auf den Tisch legen können, weil man uns sonst unsere Poesie nimmt, unsere Philosophie und unser Perpetuum mobile, um das alles dann für unseren keineswegs leicht verdienten Rubel zu verkaufen. Unsere Eltern sagen, so war es schon in den 1980er und 1990er Jahren. Und dass so etwas in den vergangenen fünf bis zehn Jahren mehr als einmal passiert ist, wissen wir aus eigener Erinnerung. Ich habe keine Bestandsaufnahme aller Festgenommenen vom 24. November gemacht (hätte ich vielleicht tun sollen) und kann deshalb nicht ganz sicher sagen, dass wir alle noch in Moskau sind. Ich könnte dieses „wir“ nicht einmal verallgemeinernd charakterisieren, denn ich konnte in jener Nacht nicht alle kennenlernen. Nur über einige weiß ich genau Bescheid. Aber irgendwie fließt es mir nicht aus der Feder. Ich wollte eigentlich so etwas wie ein „Tagebuch eines Aktivisten“ (aber was zum Teufel für Aktivisten sind wir seit dem 24. Februar 2022?) schreiben. Jetzt aber zeigt sich, dass dabei nur die Erklärungen eines Beobachters des russischen Naturells herausgekommen sind. Also lasse ich Sie und mich hier mit der Hoffnung auf Veränderung zurück. Zoj zum Beispiel (Anspielung auf das Lied „Peremen“, „Veränderung“, des Sängers Viktor Zoj aus den 1980er Jahren; d. Red.) wird immer noch in den Gängen der Metro gespielt und gesungen. Zweifelt das nicht an, ihr Fortgegangenen. Nur sind es jetzt immer häufiger Frauen, die singen. Auch ich denke manchmal: „Ich wünschte, ich wäre als Mädchen zur Welt gekommen!“ Aber so ist es nicht, und ich kann es nicht ändern. Viel wichtiger ist es, unsere Stadt und unsere Heimat in die richtige Richtung zu verändern. Daran arbeiten wir, dafür leben wir, das könnt ihr glauben. Seid nicht traurig dort, ohne uns (wir sind es ohne euch, was denn sonst?). Schreibt, sooft es geht, in euren freien Medien, wir werden es lesen. Aber wir machen hier auch unsere eigenen. Die Mauern werden fallen. Der Autor schreibt unter Pseudonym. „Perechod“ heißt „Übergang“; d. Red. Licht und Schatten: Eine Unterführung in der Nähe des Moskauer Kremls Foto: Alexander Zemlianichenko/ap Von Iwan Perechodnij Bedrohung, Willkür und Demütigung, aber auch Poesie, Philosophie, Sinn und Freude – in Moskau ist alles möglich. Viele hadern mit ihrer Stadt und fragen sich, wie es so weit kommen konnte. Ein Tagebuch A uf einer Silvesterfeier in Dubai kam ein junger Mann auf den Sänger Waleri Meladse mit den Worten „Slawa Ukrajini!“ (Der Slogan „Ruhm der Ukraine“ – „Den Helden Ruhm“ ist seit 2018 der offizielle militärische Gruß in der ukrainischen Armee; d. Red.) zu. Der Künstler legte das Mikrofon zur Seite und antwortete vermutlich: „Herojam Slawa!“ Dann bat er den jungen Mann, sich zu beruhigen, weil „wir hier nicht in der Politik sind“, und sang weiter. Zwei Worte, nicht mal ins Mikrofon gesprochen, reichten aus, dass sich schon am 3. Januar regierungstreue Politiker und Aktivisten gegen Meladse wandten. Der Vorsitzende der Parlamentsfraktion „Gerechtes Russland – für die Wahrheit“, Sergej Mironow, nannte die Äußerungen des Sängers „verwerflich“ und schlug vor, ihm alle Titel und Ehrungen abzuerkennen. Eine Parteifreundin Mironows meint dass man Meladse die Einreise ins Land verbieten müsse. Der Vorsitzende des Fonds für historische Forschung, Alexander Karabanow, schlug vor, den Künstler ab sofort als „ausländischen Agenten“ zu labeln. Und die Organisation Armee der Verteidiger des Vaterlands beantragte zu überprüfen, ob die Verleihung der Staatsbürgerschaft der Russischen Föderation (RF) an Meladse, der in der georgischen Stadt Batumi geboren wurde und lange in der Ukraine gelebt hatte, seinerzeit überhaupt legal gewesen sei. Derselbe Mironow wunderte sich darüber, dass der Sänger außerhalb des Landes „Party macht“, fand aber überhaupt nichts dabei, dass ein anderer russischer Superstar, Oleg Gasmanow, auf derselben Veranstaltung auftrat. Meladse reagierte prompt auf die Angriffe auf seine Person. Er erinnerte daran, dass die von ihm „heiß geliebten“ Nationen sich in einem Konflikt miteinander befänden und fügte hinzu: „Ich kann und will niemanden hassen und versuche nicht, jemandem zu gefallen!“ Die Geschichte von Waleri Meladse ist ziemlich symptomatisch und zeigt die wenig beneidenswerte Lage, in der sich der russischsprachige Popmainstream seit dem Februar 2022 befindet. Für Meladse war die Ukraine nie ein fremdes Land. Der Sänger hatte seine musikalische Karriere in der ukrainischen Stadt Mykolajiw am Schwarzen Meer als Mitglied der Band Dialog begonnen. Und er hatte auch mit anderen ukrainischen Künstlern gearbeitet. Deshalb war es auch wenig erstaunlich, dass Meladse am 24. Februar einer der ersten russischsprachigen Musiker war, der sich eindeutig gegen den Krieg aussprach. Dann sagte er seine Konzerte in der Russischen Föderation ab und steht als Musiker mittlerweile auf der schwarzen Liste. Was ihn jedoch nicht davon abhielt, auf Unternehmensfeiern in Russland aufzutreten. Im Mai 2022 gab Meladse bekannt, dass er seine wissenschaftliche Arbeit wieder aufnehmen wolle (er hat zu Wasseraufbereitung promoviert). Das ist eigentlich schon alles. In den vergangenen zehn Monaten war Waleri Meladse kaum noch in der Öffentlichkeit präsent und hatte sich auch nicht zum Thema Krieg geäußert. Gerade deshalb wurde sein halb geflüstertes „Den Helden Ruhm!“ so ernst genommen. Einer der bekanntesten Popstars der letzten dreißig Jahre, bei mehreren Generationen russischer und ukrainischer Zuhörer gleichermaßen beliebt, der sich mehrmals dezidiert für Frieden ausgesprochen hatte, trat weiterhin bei privaten Veranstaltungen und außerhalb der RF auf. Eine engagierte Öffentlichkeit erwartete von ihm eine möglichst klare Erklärung – pro oder contra, aber er schwieg. Mit ähnlichen Problemen kämpfen praktisch alle russischsprachigen Popstars, die seit Jahrzehnten im Geschäft sind. Die Mehrheit von ihnen hat sich nicht klar positioniert und schweigt lieber. Oder tritt auf, als sei nichts geschehen. Diese uneindeutige Haltung irritiert diejenigen, die die russische Invasion unmissverständlich verurteilen und meinen, dass Künstler mit einem großen Publikum sich, wenn sie für den Frieden sind, auch eindeutig äußern sollten. Das alles ist nichts Neues. Die Popszene war lange Zeit einfach apolitisch, selbst, wenn einzelne Künstler sich in die eine oder andere Richtung positioniert hatten. Es wäre seltsam, wenn das jetzt plötzlich anders wäre. Um eine Ausnahme davon zu machen, muss man mindestens eine Popdiva wie Alla Pugatschowa sein (vielleicht die erfolgreichste sowjetisch-russische Popsängerin überhaupt seit den 1970er Jahren bis heute; d. Red.). Die unangenehme Wahrheit ist, dass ein Künstler, wie populär er auch sein mag, niemandem etwas schuldet. Er hat das Recht, sich zu äußern – oder zu schweigen. Er kann sich von seiner russländischen Vergangenheit lossagen und die Sprache wechseln – oder eben alles beim Alten belassen. Wir setzen hohe Erwartungen in einen Musiker, nur weil er erfolgreich ist. Aber das heißt nicht, dass er sich immer klug verhält. Außerdem drücken Popmusiker mit ihren Liedern häufig viel mehr aus als mit ein paar InstagramPosts. Man kann von Waleri Meladse und anderen Stars der Vergangenheit keine großen Änderungen erwarten. Sie werden weiter die Helden der weiblichen Fans über vierzig sein. Die „Z-Publizisten“ werden sich weiterhin darüber aufregen, dass er noch nicht in Donezk aufgetreten ist. Wir werden uns auch weiter darüber beschweren, dass er „für die Harmonie“ zwischen den Nationen ist, zwischen denen es schon lange keine Harmonie mehr geben kann. Aber anstatt weiterhin etwas von Meladse zu erwarten, sollten wir lieber anfangen, uns nach neuen Helden umzusehen, die uns musikalisch wie auch zivilgesellschaftlich eher entsprechen. Vor allem, weil es genügend geeignete Kandidaten gibt. 13freitag, 20. januar 2023 Waleri Meladse bei einem Auftritt am 4. April 2021 in Moskau Foto: Valery Sharifulin/imago Der Popmusiker Waleri Meladse soll sich proukrainisch geäußert haben. Regierungstreue Politiker und Aktivisten laufen Sturm. Forderungen nach Sanktionen werden laut – bis hin zu einer Überprüfung der Staatsbürgerschaft Von Nikolai Owtschinikow Sie können Novaya Gazeta Europe auf unserer Website novayagazeta.eu/donate oder mit Hilfe dises QR-Codes eine Spende zukommen lassen. Wenn Sie Mitglied unseres Freundeskreises werden möchten, treten Sie dem Verein Friends of Novaya Gazeta Europebei. Es gibt drei Arten der Mitgliedschaft bei Friends of Novaya Gazeta Europe (gültig bis Mai 2023): • Einzelmitglied: 60 € pro Jahr (gekoppelt ans Alter von Dmitry Muratow, Chefredakteur der Novaya Gazeta in Russland; also jedes Jahr +1 €) • Kollektivmitglied (Unternehmen und Organisationen): 180 € pro Jahr • Gönner: 300 € pro Jahr Wenn Sie Fragen haben, schicken Sie uns bitte eine E-Mail an
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I m eisigen Wind flattern die Fahnen „Wir lassen die Unsrigen nicht im Stich“ oder „Nach uns: die Stille“. Wir laufen mit Iwan (Name geändert), einem 40-jährigen Einwohner von Newjansk, über den verschneiten städtischen Friedhof zwischen frischen Gräbern entlang. Viele Papierblumen sieht man hier, die bunten Plastikkränze sind noch nicht verblasst. Auf fünf Gräbern am Haupteingang stehen fast identische Grabkreuze. Newjansk ist eine Stadt im Gebiet Swerdlowsk mit etwa 22.000 Einwohnern. Hier befindet sich eine der Hauptsehenswürdigkeiten des Urals, der Schiefe Turm von Newjansk, der vor etwa 200 Jahren, zur Zeit der Fabrikanten Demidow, gebaut wurde. Der Legende nach wurden im Keller des Turms falsche Münzen geprägt, und als jemand zur Kontrolle kam, wurde der Keller geflutet, um das Verbrechen zu vertuschen, und die Arbeiter ertranken. Oft kommen Touristen her, um den Turm anzusehen. Die Stadt ist nicht gerade reich, aber wer will, findet problemlos einen Job. Es gibt ein Gefängnis und mehrere große Betriebe, wie die Newjansker Maschinenbaufabrik, ein Stahlbetonwerk, ein Kraftwerk. Und der städtische Friedhof, auch eine Art Unternehmen, wächst und entwickelt sich ebenfalls in letzter Zeit. „Wladimir Balandin“, liest Iwan auf einem Grabstein und sieht sich das dazugehörige Foto des Toten an. Er kannte ihn nicht persönlich, aber hat in der Zeitung von seinem Tod gelesen. Wladimir hatte vier Kinder. Iwan erinnert sich auch an einen anderen Verstorbenen – Igor Mochow, der im Dorf Serbischino in der Region Newjansk begraben wurde. Igor hatte Talent, er vertonte Kindergeschichten. Viele Newjansker kannten und liebten seine Werke. Iwan meint, wenn man sich die Stadt Newjansk als einen Menschen vorstellt, dann wäre das wohl ein Mann Mitte 40, gutmütig und hilfsbereit, mit einem offenen Gesicht, wie viele Porträts auf diesen Grabkreuzen. „Ich wurde in Newjansk geboren“, erzählt Iwan. „Ich liebe meine Stadt, sie hat Zukunft, liegt in der Nähe von Jekaterinburg und Nischni Tagil, zwei der größten Städte im Gebiet Swerd lowsk. Hier gibt es viel Entwicklungsspielraum, und wenn das Geld tatsächlich für die Belange der Stadt ausgegeben würde und nicht in die Taschen der Beamten flösse, wäre Newjansk wirklich schön. Meine Freunde haben die Stadt verlassen, und ich werde sehr wahrscheinlich auch wegziehen. Es gibt hier nur wenige junge Leute, weil weiterführende Schulen fehlen. Die meisten ziehen nach der Schule für eine Berufsausbildung oder zum Studium in größere Städte, nur wenige kommen danach zurück. Ich erinnere mich noch an meine eigene Schulzeit: man steht auf dem Bahnsteig, wartet auf den Regionalzug Jekaterinburg– Nischni Tagil, um einen herum nur junge Leute. Am Wochenende scheint die Stadt aufgebläht und voller Menschen, belebt sich – aber unter der Woche wird sie schmal und schweigsam.“ Mein Gesprächspartner ist davon überzeugt, dass für die Menschen aus Newjansk die „militärische Spezialoperation“, kurz MSO (Putins euphemistischer Begriff für den Angriffskrieg gegen die Ukraine;d. Redaktion), etwas Patriotisches war. Einige konnten sich gar nicht schnell genug freiwillig zur Armee melden. Er denkt, dass diese patriotische Aufbruchsstimmung mittlerweile vorbei ist. Nur einer von Iwans Freunden ist bislang freiwillig in die Ukraine gegangen und bis heute dort. Einige andere wurden mittlerweile einberufen. „Ich war aus gesundheitlichen Gründen nicht bei der Armee“, erzählt Iwan. „Aber ich könnte von der zweiten Welle (der Mobilmachung) betroffen sein. Sollten sie mich einberufen, werde ich nicht kneifen. Und auch meine Freunde sagen: Ich werde nicht abseits stehen, wenn sie uns einberufen. Das ist auch eine freundschaftliche Unterstützung für diejenigen, die schon dort sind. Aber mir gefällt dieses ganze Chaos nicht, ich bin nicht für die Ukrainer und ich bin nicht für ... Mir gefällt nicht, dass im Februar Kampfhandlungen begonnen haben. Und ehrlich gesagt, obwohl ich die Nachrichten verfolgt habe, habe ich nie genau verstanden, warum. Am Tag vor dem 24. Februar bin ich mit dem Zug gefahren und habe gesehen, wie ein Güterzug nach dem anderen die Gleise entlangfuhr, alle mit Panzern beladen. Und ich habe noch gedacht: Warum so viele? Ein großes Militärmanöver? Es hat mich gestresst und eine unangenehme innere Kälte verursacht. Aber damals habe ich einfach nicht begriffen, was da passiert.“ Iwan erzählt von einer Verschwörungstheorie: Alles sei wegen „unterirdischer Ressourcen passiert, die vor nicht allzu langer Zeit in der Ukraine entdeckt worden“ seien. Mein Gesprächspartner ist davon überzeugt, dass Russlands Vorgehen im Nachbarland nicht akzeptabel sei. „Ich habe Freunde in der Ukraine, ich mache mir Sorgen um sie“, sagt er. „Ich erinnere mich daran, wie wir bei der Fußball-WM zusammen vor dem Fernseher saßen und alle zur ukrainischen Mannschaft gehalten haben. In den sozialen Medien sehe ich extrem russophobe Einstellungen auf ukrainischer Seite, aber man darf nicht alle über einen Kamm scheren.“ Sein Freund ist in den Krieg gezogen, als man im Rahmen der Mobilmachung begann, Frauen als Krankenschwestern einzuziehen. „Er wollte nicht abseits stehen: Ich bin ein Mann und soll zu Hause sitzen, wenn man Mädchen einzieht?“, erinnert sich Iwan. „Er ist freiwillig als Arzt in die Ukraine gegangen. Ich verstehe, dass meine Freunde vielleicht nicht lebend zurückkommen, denn heute gibt es keine Bajonettangriffe mehr wie früher. Einerseits ist es wichtig, ein echter Kerl zu sein. Aber dort kann man sehr schnell zu einem echten toten Kerl werden.“ „195.000 Rubel (umgerechnet gut 2.600 Euro) – das bekommt ein einberufener Soldat. Das ist meiner Meinung nach eine lächerliche Summe. Inzwischen hat man auf 200.000 aufgerundet, aber die Logik, nach der diese Beträge festgelegt werden, erschließt sich mir nicht“, schlussfolgert er. „Warum kann man den Leuten jetzt nicht normale Gehälter zahlen, wenn es im Staatshaushalt solche hohen Beträge gibt? Das ist doch alles eine undurchsichtige Sache. Mein Freund ist aus der Ukraine zurückgekommen, aber bis heute hat er gar kein Geld bekommen.“ Trotz aller Zweifel ist Iwan überzeugt: Wenn der Staat das Kriegsrecht verhängt und es eine allgemeine Mobilmachung gibt, werden die Leute freiwillig in die Wehrämter gehen. „Es war so ein Gefühl von Kälte auf der Haut“, erinnert sich Jewgeni Konowalow an den 24. Februar. Er ist Chefredakteur der Newjansker Ausgabe der Mestnye Wedomosti (Lokalanzeiger). „Sofort war da ein Gedankenkarussell: Empörung, Nichtwahrhabenwollen und große Scham. Dabei schämte ich mich weniger für die anderen, sondern vor allem für mich selbst. Weil ich in den vergangenen zwanzig Jahren keinen einzigen Text geschrieben hatte, der den Menschen den Wunsch nimmt, in den Krieg zu ziehen. Ich verstehe bis heute nicht, wie das möglich war. Viele haben doch Familie dort, nahe Angehörige. Ich weiß, dass ich auch entfernte Verwandte in der Ukraine habe, zu denen wir vor über zwanzig Jahren, nach dem Tod meiner Großmutter, den Kontakt verloren haben. Sie sind noch dort, ich erinnere mich noch, wie sie früher zu Besuch kamen. Ich erinnere mich auch noch, wie sie uns Anfang der neunziger Jahre Schulhefte geschickt haben, als es bei uns einfach gar nichts gab. Und wie die ganze Klasse damals über die witzigen Aufschriften in ukrainischer Sprache gelacht hat. Im April wurde der Chefredakteur der Mestnye Wedomosti gleich dreimal wegen Ordnungswidrigkeiten angezeigt: für zwei Artikel, die in ein und demselben sozialen Netzwerk veröffentlicht worden waren. Einer war überschrieben mit: „Ich möchte nicht, dass unsere Kinder Kanonenfutter werden“ – das war noch im Februar. Konowalow zitierte den Angehörigen eines Soldaten, der in die Ukraine geschickt worden war. Zwei andere Anzeigen gab es wegen eines Artikels im März über die offizielle Stellungnahme des Verteidigungsministeriums, dass der Westen Biowaffen mithilfe von Zugvögeln als sogenannte Biowaffenagenten verbreite. „Die Polizei hat zunächst nur eine Anzeige gegen mich erstattet“, erinnert sich Konowalow. „Sie haben eine linguistische Expertise der Artikel vorgelegt. Die hatte eine Mitarbeiterin des Inlandsgeheimdiensts (FSB) mit philologischer Ausbildung angefertigt. Das sollte alles vor Gericht vorgebracht werden. Am nächsten Tag rief die Frau vom Revier an und fragte, ob sie noch einmal vorbeikommen könne. Eine einzige Anzeige schien den „Linguisten“ nicht zu genügen. Konowalow sagt, dass die beiden Richter am Stadtgericht, die ihn verurteilt haben, „einer Debatte nicht abgeneigt waren und sogar Sympathien für ihn hegten“. Was sie jedoch nicht daran hinderte, den Antrag auf eine unabhängige Prüfung abzulehnen. Für jede Anklage wurde Konowalow zu einer Geldstrafe von 30.000 Rubeln (umgerechnet etwa 400 Euro) verurteilt. Jetzt versucht er, die Urteile vor dem Landgericht anzufechten. Jewgeni Konowalow sagt, dass es nach dem 24. Februar keine Protestaktionen in der Stadt gegeben habe, keinen öffentlich geäußerten Dissens, von einzelnen Posts in sozialen Medien abgesehen. „Am Anfang war es mir sehr wichtig, ein Stimmungsbarometer in meinem nahen Umfeld zu erstellen, um mich zu vergewissern, dass alle, mit denen ich durchs Leben gegangen war, auf die ich mich verlassen habe, ebenfalls gegen diesen Wahnsinn waren“, erzählt er. „Aber das war leider nicht der Fall. Auch einige Freunde haben mich überrascht, indem sie Dinge im Geiste von ‚Wir können das noch mal machen!‘ (gemeint: siegen wie im Zweiten Weltkrieg; d. Redaktion) posteten. Einige standen unter Schock, aber warteten auf eine vernünftige Erklärung des Staats. Sie 14 Grab eines getöteten Soldaten auf dem Friedhof von Newjansk Fotos: Alexey Piskunov, speziell für Novaya Gazeta Europe Newjansk, eine Kleinstadt am Ural, hat bereits einige tote und verletzte Soldaten zu beklagen. Immer weniger Menschen verstehen, wofür die russische Armee in der Ukraine kämpft Aus Newjansk Isolda Drobina meinten, man sage uns wahrscheinlich einfach nicht alles, denn es müsse für diesen Krieg doch irgendeinen echten Grund geben. Ein Teil von ihnen wartet vermutlich heute noch. Also, seit einem dreiviertel Jahr haben sie noch nichts gehört, was sie als Grund hätte überzeugen können. Aber die überwiegende Mehrheit der mir nahestehenden Menschen war, unabhängig vom Alter übrigens, von Anfang an gegen diesen Krieg.“ In den ersten Kriegstagen fand in Newjansk eine Propagandademo zur Unterstützung der „Spezialoperation“ statt. Die Einwohner der Stadt wurden dazu mit Plakaten aufgerufen, mit einem Text aus dem Lied „Der heilige Krieg“ (bekanntes sowjetisches Lied aus dem Zweiten Weltkrieg; d. Red.). Einer der Hauptaktivisten war der Leiter des Kindersportvereins. „Es stellte sich heraus, dass sein ‚heiliger‘ Hass zwei Ursachen hatte: die Erinnerungen an seinen Armeedienst, bei dem es Schwierigkeiten mit ukrainischen Vorgesetzten gab. Und die Tatsache, dass seine Schützlinge aus dem Verein, die in der Armee waren, an die vorderste Front geschickt worden waren“, erinnert sich Jewgeni an sein Gespräch mit dem Sportvereinsleiter. „Dann haben auch andere Teilnehmer dieser Demo zugegeben, dass sie gar nicht konkret die Spezialoperation unterstützen, sondern die Jungs, die da hineingezogen wurden.“ Seitdem hat es keine Veranstaltungen dieser Art mehr gegeben, von den großen Sammelaktionen für humanitäre Hilfe für die Einberufenen abgesehen. Auch diese erfolgten übrigens mehr diesen Jungs zuliebe, um deren Chancen, lebend zurückzukommen, zu erhöhen. Jewgenis Beobachtungen zufolge hat sich die Stimmung in der Stadt seit Februar verändert. Noch vor der Ankündigung der Teilmobilmachung nahm die Zahl der Symbole der „Spezialoperation“ auf den Autos deutlich ab. Sein Nachbar, der Ende Februar „sein ganzes Auto dekoriert“ und einige Videos zur Unterstützung der Spezialoperation aufgenommen hatte, entfernte Ende September alle Aufkleber und löschte sogar die Filme von seinem YouTube-Kanal. „Was hat sich hier für die Stadt geändert?“, fährt mein Gesprächspartner fort. „Aus den Gesprächen mit der städtischen Verwaltung weiß ich, dass alle großen Projekte, die noch vor dem 24. Februar begonnen wurden, zum Beispiel die Uferbefestigung oder die Schwimmbadsanierung, weitergeführt werden, aber seit dem Frühling deutlich teurer geworden sind. Durch den Preisanstieg bei Baumaterialien wurden zusätzliche Mittel benötigt, unter anderem aus dem städtischen Haushalt. Ich sehe, wie sich unsere Stadtoberen freuen, dass sie im Rahmen dieser Projekte noch hochwertige europäische Maschinen kaufen konnten ... Mehrmals habe ich darüber geschrieben, welche Sorgen sich die Direktoren unserer Industriebetriebe machen, die mit ausländischen Maschinen ausgestattet oder auf internationale Absatzmärkte ausgerichtet sind.“ Die Zeitung Mestnye Wedomosti, deren Chefredakteur Konowalow in Newjansk ist, wurde 1999 als privates Medium gegründet, ohne staatliche oder kommunale Beteiligung. Die Zeitung finanziert sich ausschließlich durch eigene Einnahmen. Sie bewirbt sich aber um die Veröffentlichung von Mitteilungen der Stadtverwaltung, die gegen Geld in den Medien platziert werden. Nach Angaben des Chefredakteurs „verzichtet die Redaktion nicht auf eine möglichst objektive Herangehensweise beim Verfassen anderer, auch problematischer Publikationen“. Die Zeitung schreibt auch über diejenigen, die in der Ukraine gestorben sind, und wählt dabei sorgfältig ihre Worte. Niemand spricht öffentlich darüber, wie viele Menschen in der Region mobilisiert wurden. Weder über die geplante noch die faktische Rekrutierung. Jewgeni erzählt, dass am 29. September, als die meisten Einberufenen die Stadt verließen, fünf Busse, davon vier extra große, vom städtischen Kulturpalast aus losfuhren. Aber außer den Männern aus Newjansk fuhren auch noch Leute aus zwei Nachbarbezirken mit, aus Kirowograd und Werchni Tagil. Etwa ein Drittel dieser Anzahl an Leuten kam noch Ende Oktober dazu, als die Mobilmachung weiterging, obwohl man mit deutlich mehr gerechnet hatte. Aber nach der ersten Welle der Mobilisierung und den ersten Beerdigungen zogen die Menschen wohl ihre eigenen Schlüsse ... Ein Bild des Durchschnittseinberufenen – wer er ist, wie er lebt – kann man heute aus Informationen über die ersten Gefallenen ableiten. Ihre Namen sind in der Stadt bekannt. Es sind in der Regel Männer um die 40, verheiratet, mit mehren Kindern, wertgeschätzt an ihren Arbeitsstellen. „Wenn man jetzt mit ihren Angehörigen spricht, versteht man: Die wenigsten von ihnen konnten sich vorstellen, dass alles so tragisch verläuft, dass sie schon nach wenigen (!) Tagen an die vorderste Front geschickt würden“, fährt Jewgeni fort. „Die Frauen sagen, angeblich hätten die Männer irgendwelche technischen Arbeiten im Hinterland machen sollen (zumal viele von ihnen darin echte Experten sind), die öffentliche Ordnung aufrechterhalten – ‚ihre Pflicht erfüllen, weitab von der Front‘.“ Unter den Mobilisierten im Stadtbereich Newjansk waren sogar kinderreiche Väter. Für die Rückkehr ihres Mannes, des 39-jährigen Wassili Utjomow, führt Olga Utjomowa aus dem Dorf Zementnij einen ungleichen Kampf mit den Ämtern. Das Paar hat vier Kinder: 18, 17, 15 und 9 Jahre alt. „Es ist eine ziemlich schreckliche Situation. Nach dem Gesetz gelten wir als kinderreich, weil drei unserer Kinder noch minderjährig sind“, sagt Olga Utjomowa. „Und wenn Kinder nach dem allgemeinen Schulabschluss eine Berufsschule besuchen, ist man sogar kinderreich, bis das Kind 23 ist. Aber bei der Staatsanwaltschaft hat man mir gesagt, dass in Zeiten einer Mobilmachung unsere Familie nicht mehr als kinderreich gilt, sobald das älteste unserer drei minderjährigen Kinder das 16. Lebensjahr vollendet hat.“ Olga erzählt, dass Wassili am 29. September einberufen wurde. Er habe nicht versucht abzuhauen, weil er „pflichtbewusst“ sei und überzeugt davon, dass man ihn zur rückwärtigen Frontverteidigung oder als Fahrer einsetzen würde. Aber nach weniger als zwei Wochen, am 10. Oktober, war er schon in der Ukraine. In den Unterlagen, die sie von der Militärverwaltung bekam, stand, ihr Mann sei erst seit dem 14. Oktober in einem Kampfverband. Jetzt werde er, der nie in der Armee gedient und keine militärische Ausbildung abgeschlossen habe, dort als stellvertretender Zugführer im Rang eines Unteroffiziers aufgeführt, obwohl man ihn als gewöhnlichen Fahrer einberufen habe. „Neulich kam zum ersten Mal das Gehalt meines Mannes, mehr als 200.000 Rubel“, sagt Olga, „aber trotzdem schreibe ich weiter Eingaben mit der Forderung, Wassili als kinderreichen Vater nach Hause zu entlassen. Ich selbst kann aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten, und alleine mit den Kindern ist es sehr schwierig. Was sollen wir mit diesem ‚Kriegsgeld‘, wenn mein Mann auch hier gut verdient und dafür nicht sein Leben riskiert?“ Über ihre Einstellung zur MSO, der „Spezialoperation“, möchte Olga lieber nicht sprechen, wie so viele andere Angehörige von Einberufenen auch nicht. „Unser erster Soldat (aus dem Nachbarkreis Kirowograd) starb während der ersten Tage der MSO“, erzählt Jewgeni Konowalow. „Ende August kamen zwei Jungs aus Newjansk zurück. Das war damals eine echte Tragödie für die Stadt – gleich zwei 200er-Lasten (Codewort für die Rückführung von im Krieg gefallenen Soldaten; d. Red). Da ahnte noch niemand, was anderthalb Monate später passieren würde. Von den Freiwilligen starb einer – ein Junge vom Land. Wie viele von ihnen insgesamt kämpfen, ist schwer zu sagen. Es kommt vor, dass man mit einem Bekannten redet, man sich an jemanden erinnert und sagt, dass man ihn lange nicht gesehen habe, und der Bekannte dann sagt: „Der ist schon seit ein paar Monaten in der Ukraine.“ Weitere zwanzig Menschen gelten als vermisst. Die Mütter und Ehefrauen der Einberufenen haben eine gemeinsame Social-Media-Gruppe gegründet, um sich gegenseitig zu unterstützen. Wenn einer der vermissten Männer sich doch telefonisch meldet, geben sie die Informationen an die anderen weiter. Wenn möglich versuchen sie, über den Anrufer detaillierter etwas über weitere Vermisste zu erfahren. Man hatte gehofft, die Vermissten beim Rückzug der Truppen vom rechten Dnipro-Ufer nach der Aufgabe von Cherson zu finden. Aber nach einer Umgruppierung war die Liste nur um einige Namen kürzer. Jewgeni meint, dass nur noch wenige Newjansker an die „Heiligkeit“ dieser „Operation“ glaubten. Die Angehörigen der Eingezogenen sprechen jedenfalls weder von „Nazis“ noch in anderer Weise abfällig über Ukrainer. „In letzter Zeit bin ich nur einmal wütend auf Ukrainer gewesen“, gesteht Jewgeni. „In der Stadt gab es eine Altpapiersammlung und mit einem Teil des Geldes wollte man die Einberufenen unterstützen. Einer der Angehörigen eines Gefallenen, ein alter Mann, brachte ein paar hundert Kilo Papier mit der Bitte: „Kauft eine Granate dafür und schreibt darauf: ‚Für meinen Neffen!‘“ Die Region Newjansk hat zehn Gefallene bestattet – das kann man an den Gräbern auf dem Friedhof abzählen. Dort wird schon der Platz für die nächsten Beerdigungen vorbereitet. Verwundete gibt es in der Region mehrere Dutzend. Konowalow sagt, dass man einigen von ihnen gesagt habe: „Kuriert euch, ruht euch aus, bald schicken wir euch wieder zurück.“ 15 Spielzeugautos als letzter Gruß auf dem Friedhof von Newjansk: Auch hier hat ein getöteter Soldat seine letzte Ruhestätte gefunden freitag, 20. januar 2023 Leninstraße in Newjansk. Auf dem Plakat steht: „Unser Held, Andschei Belousow“ 16freitag, 20. januar 2023 S eit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine befindet sich Kasachstan, das mit beiden Staaten freundschaftliche Beziehungen unterhält, in einer schwierigen Situation. Einerseits konnte Astana die Ukraine in keiner Weise offen unterstützen: die Abhängigkeit von Russland ist zu groß, zudem hält die Republik am „Multivektorprinzip“ fest (Versuch einer ausbalancierten Außenpolitik zwischen Ost und West; d. Red.) und lässt sich grundsätzlich nicht in einen Krieg hineinziehen. Andererseits ist die territoriale Integrität von Staaten für Kasachstan von elementarer Bedeutung. Demgegenüber nimmt Russland sich heraus, dieses grundlegende Prinzip nicht anzuerkennen. Das führt zu erhöhten Spannungen um die nördlichen Regionen Kasachstans (dort leben vorwiegend ethnische Russen; d. Red.). Deshalb sagte Präsident KassymSchomart Tokajew offen, dass Kasachstan die Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk in der Ostkukraine definitiv nicht unterstützen werde. Doch noch während Politiker untereinander darüber diskutierten, hatten einfache Bürger aus den Reihen einer aktiven Zivilgesellschaft ihre Wahl bereits getroffen. Seit Beginn des Kriegs wurden mehrere Ladungen Hilfsgüter in die Ukraine geschickt – von Lebensmitteln und Kleidung bis hin zu Wärmegeneratoren. Anfang März 2022 fand in Almaty eine genehmigte Kundgebung zur Unterstützung der Ukraine statt. Nun ja, nachdem die Teilnehmer zu laut geschrien hatten (und das kam in vielen Berichten vor), wie man Wladimir Putin nennen sollte, wurden keine weiteren Kundgebungen mehr abgehalten. Bis zu einem gewissen Punkt kam ein solches doppelgleisiges Denken offenbar auch Moskau entgegen. Das änderte sich, als in der ukrainischen Stadt Butscha eine „Jurte der Unbesiegbarkeit“ errichtet wurde. Eine Jurte ist eine traditionelle Behausung der Steppenkasachen, ein Synonym für Schutz und Wohlstand. In der Ukraine erfüllt das von Kasachen übergebene Exemplar genau diese Funktion: Dort kann man sich aufwärmen, Telefone aufladen, Tee trinken – im Allgemeinen wirkt diese Geste eher symbolisch, aber dennoch schön. Anfangs gab es Berichte in den Medien, dass die Botschaft von Kasachstan in der Ukraine direkt an der Installation der Jurte beteiligt gewesen sei, aber es scheint, dass dies nicht ganz so stimmt. Zwar ist die Botschaft über alle humanitären Lieferungen irgendwie auf dem Laufenden. Das bedeutet jedoch nicht, dass für den Transport und die Unterhaltung einer solchen Lieferung bei der Vertretung der kasachischen Behörden eine Genehmigung eingeholt werden muss. Und so beschleicht einen das Gefühl, dass die Botschaft den Moment des Ruhms teilen möchte, als Medien und der Regierung gegenüber illoyale Aktivisten anfingen, von der Errichtung der „Jurte der Unzerstörbarkeit“ als einer Art moralischen Triumphs zu sprechen. Doch russische Diplomaten lesen ebenfalls Medien und denken komplett anders über diese Angelegenheit. Deshalb sagte die Pressesprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, die in ihrer Funktion für zahlreiche lautstarke Äußerungen verantwortlich zeichnet, am Abend des 10. Januar, ihre Behörde warte jetzt auf eine „offizielle Stellungnahme“ von Kasachstan bezüglich der Nichtbeteiligung seiner Behörden an der Aufstellung dieser Jurte. Nach dem Motto: Ihr habt Russland zum Beispiel nicht in aller Öffentlichkeit gesagt, dass die Jurte nicht eure ist, aber das muss für die ganze Welt klargestellt werden. Der Antwortkommentar des Pressesprechers des kasachischen Außenministeriums, Aibek Smadijarow, gefiel oppositionellen Aktivisten nicht, er ist aber ein anschauliches Beispiel östlicher Schläue: „Die Botschaft von Kasachstan hat damit nichts zu tun. Dies ist eine Initiative privater kasachischer Unternehmen. Wir können ihnen das nicht verbieten. Sie haben die Jurte geliefert, aufgestellt und dabei selbst mit angepackt. Wir sehen kein Problem darin, eine Jurte aufzustellen. Die Jurte ist eine traditionelle Behausung für Nomaden, sie ist einfach zu montieren und umweltfreundlich. Das ist eine Initiative von Geschäftsleuten, um dem ukrainischen Volk zu helfen. Eine besondere Stellungnahme zu diesem Thema halten wir für nicht erforderlich, da wir die Aufstellung dieser Jurte nicht als ein Problem ansehen. Im Gegenteil, wir sind stolz darauf, dass wir eine Jurte haben.“ Obwohl es laut Sacharowa keine direkte Anweisung gab, sich von der Jurte zu distanzieren, fiel gleichzeitig der Satz, dass ein offizieller Kommentar aus Kasachstan erforderlich sei, um eine weitere Diskussion dieses Themas zu vermeiden. Denn deren Ziel sei es, der russisch-kasachischen strategischen Partnerschaft und Allianz zu schaden. In den Kommentaren zu den Nachrichten wird bereits darüber gelästert, wie zart die Natur russischer Diplomaten sein muss, da sie von einer einfachen Wohnung ohne Ecken – in der Tat ein Symbol des Friedens – so gestresst seien. Genau das ist das Problem: Demonstrative Gesten, von welcher Seite auch immer, machen Regimen wie dem russischen mehr Angst als konkrete Aktionen. Eine Jurte ist schlimmer als ein Wärmegenerator, denn sie symbolisiert nicht nur Menschlichkeit, sondern auch Solidarität zwischen Nationen. Rufe wie „Putin – la-la-la!“ sind schlimmer, als Russen aufzunehmen, die vor der Einberufung fliehen. Denn solche Schlachtrufe entweihen das Regime, machen es lächerlich und spielen die Bedeutung der Angst vor ihm herunter. Die demonstrative Verspätung von Putin zu einem Treffen (so etwas gab es im vergangenen Jahr) ist viel unangenehmer als die Lieferung von Waffen: Für das russische Regime ist Respektlosigkeit schlimmer als durch solche Waffen getötete Soldaten. Eine solche auf den Kopf gestellte Logik ist eine Folge tiefster psychologischer Komplexe der wichtigsten Repräsentanten des Regimes. Und die Situation mit der Jurte oder mit diesem Angriffsgeheul stellt in gewisser Weise eine Analogie zu einem Ereignis von 1934 dar. In jenem Jahr brach im nationalsozialistischen deutschen Außenministerium Hysterie aus, weil die jüdische Diaspora in den Vereinigten Staaten plante, in Abwesenheit von Adolf Hitler einen Schauprozess gegen ihn abzuhalten. Der damalige deutsche Chefdiplomat, Konstantin von Neurath, hätte den USA fast gedroht, dass die Durchführung eines solchen Prozesses eine Verschlechterung der beiderseitigen Beziehungen zur Folge haben könne. Die Reaktion der amerikanischen Seite damals und der kasachischen Seite heute ist sehr aufschlussreich: Im Jahr 1934 hatte auch der Vizeaußenminister der USA, William Phillips, erklärt, dass die Behörden seines Landes nichts mit privaten Initiativen zu tun hätten. Nach diesem „Prozess“ erklärte das Außenministerium, dass der Staat kein Recht habe, auf Handlungen von US-Bürgern Einfluss zu nehmen, wenn diese keine Gesetze verletzten. In dem Buch „Tiergarten – in the Garden of Beasts“ von Erik Larson, das diesen Konflikt beschreibt, wird darauf hingewiesen, dass die Deutschen „das nicht verstehen“ konnten: dass der Staat seinen Bürgern nicht vorschreiben darf, was sie denken sollen. Natürlich sind Aibek Smadiyjarow und das kasachische Außenministerium nicht William Phillips und das US-Außenministerium (unter anderem behandelten die Behörden in den Vereinigten Staaten das Hitler-Regime schon damals mit unverhohlenem Ekel, wohingegen wir nicht wissen, was das kasachische Außenministerium wirklich denkt). Unlängst hatten Kasachstan und Maria Sacharowa einen Konflikt – anscheinend ist die Rhetorik diesmal daher moderater. Die jüngste Auseinandersetzung sollte das russische Außenministerium stärker belasten als die kasachische Jurte, die aufgestellt wurde, damit sich die Einwohner in Butscha aufwärmen können. Übrigens: Die Tatsache, dass die menschlichen Schritte anderer die russischen Behörden viel mehr erzürnen als ihr eigener Kannibalismus, spricht für sich. Geste der Solidarität: Seit Kurzem steht in der ukrainischen Stadt Butscha eine Jurte aus Kasachstan Foto: Oleksii Chumachenko/ anadolu/ddp Von Wjatscheslaw Polowinko Eine Jurte als Politikum Kasachen stellen in der ukrainischen Stadt Butscha eine Jurte auf, damit die Menschen sich dort aufwärmen können. Russlands Außenministerium wertet diese Geste der Solidarität als Aff ront und fordert eine offi zielle Stellungnahme ÜBER GRENZEN HINWEG FÜR UNABHÄNGIGEN JOURNALISMUS IN OSTEUROPA Unterstützen Sie mit uns: taz.de/spenden Anzeige
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